Vereinsamt und vergessen? Mehr Drogentote in Corona-Pandemie

Sendedatum: 25.01.2022 21:15 Uhr

Die Pandemie hat die Lage für suchtkranke Menschen in Norddeutschland verschlimmert. Wegen der Schutzmaßnahmen wurden Hilfsangebote eingeschränkt und gewohnte Strukturen und Ansprechpartner weggebrochen.

von Jan Littelmann, Leon Montero und Mirco Seekamp

Dennis und Janine
Dennis und seine Freundin Janine leben seit drei Monaten in einer Lagerhalle am Stadtrand von Bremen.

"Geändert hat sich durch Corona natürlich einiges", erzählt uns der drogenabhängige Dennis am Rande des Bremer Hauptbahnhofes. Mit seiner Freundin Janine lebt er seit etwa einem Jahr in Bremen auf der Straße. Schon vor der Pandemie war es für die beiden nicht einfach, aber durch Corona hat sich die Situation noch einmal verschärft: "Einfach mal ein fröhliches Hallo, so einen Klönschnack wollen die meisten gar nicht mehr. Die sind vorsichtig geworden, gehen direkt auf Abstand."

Zahl der Drogentoten explodiert

In vielen Städten in Norddeutschland explodiert seit dem Beginn der Pandemie die Zahl der Drogentoten. 37 Menschen starben 2020 allein in Bremen an den Folgen des Rauschgiftkonsums. Im Vorjahr - noch ohne Corona - waren es nur 18 Menschen, nicht einmal halb so viele. Die meisten Todesopfer sterben nicht an einer Überdosis, sondern an den Begleiterscheinungen und Nebenwirkungen ihrer Sucht. Viele geraten während der Pandemie noch tiefer in eine Lebenskrise.

Seit über zwanzig Jahren konsumiert Dennis Drogen. Ecstasy, Koks, Cannabis - alles durcheinander. Nur von Heroin ließe er die Finger, das würde ihn kaputt machen, erzählt er uns. Er hätte früher sogar mal studiert, doch das sei lange her. Mittlerweile ist er über 40 Jahre alt. Er kennt die Szene gut, führt uns zu den Hotspots der Hansestadt. Um den Hauptbahnhof sammelt sich die offene Drogenszene. Unter einer Fußgängerbrücke liegen zuhauf weggeworfene Spritzen. Viele Drogenkonsumenten werden während der Pandemie aus den sozialen Systemen ausgeschlossen, weil für sie Barrieren zum Jobcenter oder zu anderen sozialen Leistungen entstehen. Dennis erzählt, dass sie nicht mehr einfach zum Amt gehen könnten, sondern alles Online abgeben müssten, was für viele Süchtige ohne Smartphone und Computer beinahe unmöglich sei.

Auf Nachfrage erklärt Katrin Demedts, Pressesprecherin der Jobcenter in Bremen aber, dass keines der sechs Bremer Jobcenter den Publikumsverkehr während der Pandemie eingestellt hätte. Persönlicher Kontakt sei die ganze Zeit über möglich gewesen. Doch auch andere Suchtkranke berichten uns von Schwierigkeiten, ihren Leistungsbezug während der Pandemie durchzusetzen. Offensichtlich war es für einige Suchtkranke in der Pandemie schwierig, ihren persönlichen Sachbearbeiter zu erreichen.

Soziale Kontakte fehlen

Etliche Einrichtungen, die sich in Norddeutschland um Drogenabhängige kümmern, laufen während der Pandemie im Notbetrieb. So auch das Café Claro in Kiel. Olli Carell, pädagogischer Mitarbeiter, kümmert sich hier um Schwerstabhängige. Sie bekommen eine warme Mahlzeit und frisches Spritzbesteck für den Konsum. "Es gab ja eine Zeit, da war das hier reduziert auf den Spritzentausch, also das Allerwichtigste: die Gesundheitsprävention. Aber da haben dann sämtliche sozialen Kontakte gefehlt. Einige haben furchtbar darunter gelitten", so Carell.

Eingang des claro
Im Café Claro bekommen Drogenabhängige eine warme Mahlzeit und frisches Spritzbesteck für den Konsum.

Für Süchtige wird die Pandemie mehr und mehr zur Existenzfrage. Auch in Schleswig-Holstein hat die Zahl der Drogentoten in der Pandemie einen Höchststand erreicht. Im Jahr 2020 waren es 63 Menschen, so viel wie noch nie zuvor (die Zahlen für 2021 liegen noch nicht vor). Die Todesfälle unter den Abhängigen gehen an den Mitarbeitern im Café Claro nicht spurlos vorbei: "Für uns sind das Menschen, denen wir durchaus auch nahestehen und mit denen wir tagtäglich hier auf der Arbeit zu tun haben, die ein Gesicht haben, die eine Stimme haben." Er wünscht sich dringend einen Drogenkonsumraum in der Landeshauptstadt. "Wir werden den Konsum nicht vermeiden können. Wir können ihn aber so sicher gestalten, wie es irgendwie möglich ist, um Langzeitfolgen zu reduzieren."

Was in Kiel noch fehlt, gibt es in Bremen schon. Im Drogenkonsumraum können mitgebrachte Drogen in sterilem und geschützten Umfeld konsumiert werden. Für die Leiterin Lea Albrecht ist die Einrichtung essentiell, um Todesfälle durch Überdosierung zu verringern: "Wir sollten uns allen Menschen annehmen, so dass jeder Mensch Teil dieser Gesellschaft sein kann. Ich finde, deswegen muss eigentlich jede größere Stadt einen Drogenkonsumraum haben." Viele Drogensüchtige leiden während der Pandemie besonders unter der Einsamkeit, ihnen fehlen soziale Kontakte. Dennis und seine Freundin Janine haben wenigstens einander. Sie führen uns in eine Lagerhalle am Stadtrand. Als drogensüchtiges Paar eine Unterkunft zu finden, sei schwer, deswegen leben die beiden seit drei Monaten hier. Überall liegt Müll auf dem Boden, die Zustände sind erschreckend. "Die Politik sollte mehr die Augen öffnen für die Menschen, die wirklich nichts haben", meinen die beiden am Ende dieses Tages.

 

Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 25.01.2022 | 21:15 Uhr

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