Bundeswehr fehlen Soldaten: Braucht es wieder eine Wehrpflicht?
Bis 2031 soll die Streitmacht der Bundeswehr auf 203.000 Soldatinnen und Soldaten anwachsen. Doch die Truppe altert und schrumpft. Zehntausende Kräfte fehlen. Braucht es wieder eine Wehrpflicht oder nicht?
Oberfeldwebel Selina führt bei einer Übung auf dem Truppenübungsplatz im niedersächsischen Munster ihre Kameraden. Seit 2017 ist sie bei der Bundeswehr - eine Soldatin aus Überzeugung. "Auch wenn es ein bisschen glorifizierend klingt, meiner Meinung nach ist das ein Beruf, der besonders ist", sagt sie. "Das sind Menschen, die alles, was wir hier haben, was wir aufgebaut haben in irgendeiner Art und Weise beschützen."
20.000 Soldatinnen und Soldaten fehlen der Bundeswehr
Wie Feldwebel Selina denken längst nicht alle. Die Bundeswehr hat ein Personalproblem: Für das Ziel einer Streitmacht von 203.000 Soldatinnen und Soldaten fehlen noch 20.000. Ein Problem sei die Rekrutierung von Fachkräften, sagt Nicole Schilling. Sie ist Generalstabsarzt und damit die ranghöchste Soldatin der Bundeswehr und Vizepräsidentin des Bundesamtes für Personalmanagement der Bundeswehr in Köln. "Ganz praktisch gesagt, tun wir uns da schwer, wo sich auch alle anderen Mitbewerber schwertun, zum Beispiel wenn es um die Gesellen- und Meisterebene geht", erklärt sie. "Wenn man in die Logistikbranche möchte, dann muss man nicht Soldat werden. Wenn man IT-Fachkraft werden möchte, dann gibt es genug Möglichkeiten auf dem zivilen Arbeitsmarkt. Das Gleiche gilt für Gesundheitsfachberufe und für technisches Personal."
Bei Fachkräftebedarf auf Freiwilligkeit angewiesen
Eine Wehrpflicht könne man zwar diskutieren, sagt sie. Den Fachkräftemangel bei der Bundeswehr könne diese allein aber auch nicht lösen: "Die Wehrpflicht hat in der Vergangenheit ihren Beitrag geleistet, dass junge Menschen die Bundeswehr kennengelernt haben und sich dann dafür entscheiden konnten, auch länger Ihren Dienst zu verrichten. Aber gerade für den für uns schwierigen Fachkräftebedarf sind wir tatsächlich auf Freiwilligkeit angewiesen."
Laut Schilling habe die Bundeswehr mehr als 100.000 Menschen für zivile und vor allem militärische Aufgaben in den vergangenen fünf Jahren eingestellt. Demgegenüber stehen aber immer kürzere Verpflichtungszeiten bei Zeitsoldaten - und auch eine hohe Abbrecherquote. Von allen im Jahr 2023 eingestellten Soldatinnen und Soldaten sind laut Wehrbericht bis zum Jahresende über 4.000 wieder ausgeschieden - innerhalb der ersten sechs Monate. Das ist mehr als jeder Fünfte.
Ehemaliger Wehrbeauftragter Bartels sieht Reformbedarf
Der ehemalige Wehrbeauftragte und aktuelle Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik, Hans-Peter Bartels, sieht darin ein reformbedürftiges System: "Dieses Dauerproblem, das wir seit 2014 haben - zu wenig Soldaten in allen Strukturen - das kann man wahrscheinlich nicht auf den Wegen, die man bisher versucht hat, lösen, indem man einfach die Rekrutierung auf dem freien Arbeitsmarkt verändert. Das hat in den letzten zehn Jahren nicht geklappt. Wir kommen nicht über 180.000 hinaus."
Deshalb spricht sich Bartels für die Wehrpflicht aus. Sein Vorschlag: eine Auswahlwehrpflicht. Das ist keine ganz neue Idee: 2011 hatte die SPD diese als Gegenentwurf zum Aussetzen der Wehrpflicht präsentiert. Der Vorschlag damals: "Wir bleiben bei der Erfassung ganzer Jahrgänge, wir bleiben bei der Musterung, und die tauglich Gemusterten sollten gefragt werden, ob sie auch willens wären, zur Bundeswehr zu kommen. Da müsste man damit rechnen, dass viele nicht willens wären. Aber wenn es genug sind, muss niemand gezogen werden, damit erledigt sich das Problem der Wehrgerechtigkeit", so Bartels.
Sollte die Auswahlwehrpflicht erweitert werden?
Heute könne der Vorschlag auch erweitert werden, sagt Bartels. "Wenn man das jetzt aufleben lässt, wird man wohl noch mal schauen: Gilt das nur für junge Männer oder für Männer und Frauen gleichermaßen? Wenn wir ganze Jahrgänge nehmen, die volljährig geworden sind, dann sind wir in einer Größenordnung von 700.000.“ Wenn sich nur ein Bruchteil für die Bundeswehr entscheiden würde, sei das Ziel von etwa 200.000 Soldatinnen und Soldaten schnell erreicht, argumentiert Bartels.
Auch Feldwebel Selina wünscht sich eine andere Form der Wehrpflicht. "Eine Wehrpflicht für alle ist meiner Meinung nach nicht umsetzbar. Das hat verschiedene Gründe", sagt sie. Aber eine Teilwehrpflicht könne sie sich vorstellen: "Dass sich zumindest aus einem Jahrgang, wie man es schon mal hatte, ein Prozentsatz das zumindest anguckt und sich so auch eine Meinung bilden kann."
Ob es also eine Wehrpflicht braucht und wenn ja welche - darüber wird weiter diskutiert werden - auf politischer, aber auch gesellschaftlicher Ebene.