Bildungsdefizite: Die Corona-Pandemie als Brennglas
Wochenlange Schul-Schließungen, digitale Unterrichtsangebote, Wechselunterricht und Homeschooling: Die vergangenen zweieinhalb Jahre waren für viele Familien und Lehrkräfte eine große Herausforderung. Die Folge: Lerninhalte sind auf der Strecke geblieben.
Die empirischen Bildungsstudien, die in diesem Jahr veröffentlicht worden sind, bestätigen, was viele Lehrkräfte und Eltern befürchteten: Vor allem die Lese- und Rechen-Kompetenzen haben im Laufe der Pandemie deutlich gelitten.
Kernkompetenzen weiter gesunken
So kann mittlerweile nur noch etwas mehr als ein Drittel der Grundschulkinder gut oder sehr gut lesen. Das sind sieben Prozent weniger als noch vor der Pandemie. Auch beim Verständnis von Texten haben ähnlich viele Schülerinnen und Schüler jetzt größere Probleme.
Die regelmäßige Hamburger KERMIT-Erhebung belegt außerdem die Sorge vieler Bildungsfachleute. Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Milieus hatten durchschnittlich mehr Schwierigkeiten in Mathe und Deutsch als andere.
Ein Ergebnis, das auch die Forschenden vom Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen bestätigen. Erste Ergebnisse des IQB-Bildungstrends vom Juli 2022 besagen: Jedes dritte Grundschulkind der 4. Klasse hat Probleme mit den Mindestanforderungen der Rechtschreibung. Und beim Lesen, Zuhören und in Mathe kann rund ein Fünftel der Kinder die Mindestanforderungen nicht erfüllen.
Langfristige Risiken durch Wissenslücken
Diese Defizite in den Kernfächern können sich auch langfristig auf den Lernerfolg in anderen Fächern auswirken, sagt Katharina Scheiter, Professorin für Digitale Bildung an der Universität Potsdam. In Physik und Chemie sind beispielsweise mathematische Grundkompetenzen wichtig. Wird Lernrückständen nicht entgegengewirkt, addieren sich diese Einbußen über die Zeit. Wie groß dieser Effekt ist, lässt sich mit Modellierungen von der Universität Potsdam ausrechnen, sagt Scheiter: "Es gibt jetzt Daten, die suggerieren in einer Modellierung, dass ein Kind, das jetzt in der dritten Klasse gewesen ist, bis zur Klasse 10 ungefähr eineinhalb Jahre Leistungsrückstand hat."
Wie wirksam sind Aufholprogramme?
Im Frühjahr 2021 hat der Bund zwei Milliarden Euro in ein Corona-Aufholprogramm für Schülerinnen und Schüler investiert. Durch Ferienkurse, Lehrkräfte-Fortbildungen, Schwimmkurse und Radfahr-Ausbildungen sollen Lernrückstände ausgeglichen werden.
Aber Katharina Scheiter ist skeptisch, ob dieses Programm die Bildungslücken beheben kann: "Was wir sehen, ist ja, dass Kinder aus sozial schwächeren Familien besonders gelitten haben. Und wir bräuchten eigentlich eine viel präzisere Diagnostik, um erstmal festzustellen, welche Kinder besonders große Leistungsdefizite haben. Diese müssen dementsprechend besonders intensiv gefördert werden. Das heißt: Die Gefahr ist jetzt, dass es nach dem Gießkannen-Prinzip gehandhabt wird: 'Alle kriegen ein bisschen mehr Unterricht'. Und das wird eigentlich den Daten, die wir haben, nicht gerecht."
Denn die Bildungsdefizite sind zwar quantifizierbar, wie die Untersuchungen zeigen, aber nicht für alle gleichermaßen. Je nach Bildungsbereich, Alter und sozialer Situation sind die Folgen der Pandemie-bedingten Einschränkungen verschieden. Auch deshalb kann man nicht pauschal sagen, dass die Wissenslücken kausal durch die Corona-bedingten Schul-Schließungen verursacht sind. Wissenschaftlich lässt sich das nicht eindeutig belegen.
Zu wenige Daten erhoben
Denn es fehlen ausreichende Daten. Weder existieren Übersichten, welche Schule wann, unter welchen Bedingungen und für wie lange überhaupt geschlossen war. Denn auch das Infektionsgeschehen selbst hat für Schul-Schließungen gesorgt, so dass die Unterschiede zwischen den Schulen, Landkreisen und Städten durchaus erheblich sein können.
Auch fehlt eine Übersicht, wie gut die Schulen digital ausgerüstet sind, welche Art von Wechselunterricht stattgefunden hat und wie intensiv die Lehrkräfte den Kontakt mit Schülerinnen und Schülern gepflegt haben. Da diese Daten nicht vorliegen, lassen sie sich auch nicht vergleichen. Doch jeder einzelne Aspekt kann lernfördernd oder lernerschwerend sein.
Und auch über die Lernsituation der Kinder und Jugendlichen ist viel zu wenig bekannt: Verfügen sie über ein eigenes Zimmer oder haben sie noch nicht einmal einen eigenen Schreibtisch? Wie steht es um den Zugang zum Internet? Und wie werden sie familiär unterstützt?
Um wissenschaftlich einen Zusammenhang zwischen Schul-Schließung und Lerndefiziten herstellen zu können, ist die Datenlage also zu lückenhaft, bemängeln die Forschenden. Auch wenn es als gesichert angesehen werden kann, dass die Corona-Pandemie die Lernbedingungen für viele Kinder und Jugendliche erschwert hat.
Jahrelanger Abwärtstrend
Hinzu kommt, dass die festgestellten Defizite einen negativen Trend fortschreiben, den Bildungsforscherinnen und -forscher bereits seit Jahren kennen: Die Leistungen in Mathematik und Lesen beispielsweise verschlechtern sich im Primarbereich bereits seit 2011. "Wir können nicht sagen, wie groß der Anteil der Pandemie an der erneuten Verschlechterung ist", gibt deshalb Petra Stanat zu bedenken. Sie ist die wissenschaftliche Leiterin des IQB. Denn der Abwärtstrend hat bereits ohne die Pandemie beunruhigende Ausmaße angenommen.
Die empirische Bildungsforschung macht dafür die Personalnot an den Schulen und die Heterogenität der Kinder und Jugendlichen verantwortlich. Darauf reagiere das Bildungssystem zu langsam. Sofehlten bereits jetzt laut Lehrerverband rund 40.000 Lehrkräfte. Eine umfassende Reform von Schule stehe an, um den Bildungsstandort Deutschland nicht noch weiter zu gefährden, fordern Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Aber bisher passiere eindeutig zu wenig, um die Erkenntnisse aus der empirischen Bildungsforschung auch tatsächlich umzusetzen. Die Erkenntnisse aus der Corona-Krise zeigen also hauptsächlich grundlegende Defizite unter dem Brennglas. Mit geöffneten Schulen allein ist es nicht getan.
weiterführende Links:
Berechnung des Lehrermangels von der KMK (Kultusministerkonferenz):
Nationaler Bildungsbericht: