Kunst und Rundfunk – Barlach und Hertz

von Andrea Völker
Heinrich-Hertz-Raum, Funkhaus (1931) © NDR Archiv
Heinrich-Hertz-Raum, Funkhaus (1931)

Die klare, moderne Gestaltung der Architekten Puls & Richter setzte sich auch im Inneren des Neubaus weiter fort. Die künstlerische Ausgestaltung des Interieurs war reduziert und sorgsam ausgewählt. Nur wenige Kunstwerke gehörten zur Ersteinrichtung des neuen Funkhauses. Sie verbanden sich mit dem Gebäude und stellten einen engen Bezug zum Rundfunk her. In einem Klavier- und Übungsraum versinnbildlichten die Reliefs der Lauschenden von Ernst Barlach die Wirkung von Musik auf den Menschen – das kontemplative Hörerlebnis. Auch widmete die NORAG dem Physiker Heinrich Hertz einen Raum, Porträtrelief und Fries. Der Wissenschaftler ist bis heute eine Identifikations- und Leitfigur für das Unternehmen.

 

Heinrich Hertz als Leitfigur

Heinrich Hertz Medaillon im Eingangsbereich des NDR (2023). © NDR Archiv Foto: Branka de Veer
Heinrich Hertz, Eingang NDR

Als Erfinder der elektromagnetischen Wellen ist Heinrich Hertz einer der Urväter des Rundfunks. Die internationale Einheit der Frequenz trägt bis heute seinen Namen. Die Würdigung seiner Person und intendierte Verbindung mit der NORAG finden sich im Außenauftritt und auf dem Rundfunkgelände: von der Ätherwelle Friedrich Wields (1931), Büsten und Medaillons in den Gebäuden, der Widmung des Firmen-Jahrbuchs 1930 bis hin zu direkten Verweisen der Architekten und Eigenpublikationen der NORAG.*(1) Auch der NDR beruft sich auf diese Tradition: Im Haupteingang findet sich ein Medaillon mit seinem Porträt.

 

 

 

Heinrich-Hertz-Raum (1931)

Heinrich-Hertz-Raum, Funkhaus (1931) © NDR Archiv
Heinrich-Hertz-Raum, Funkhaus (1931)

Zur Eröffnung des Funkhauses widmete die NORAG Heinrich Hertz im Erdgeschoss des Neubaus einen eigenen Raum. In direktem Anschluss an den Großen Sendesaal zog sich der kleine Raum längs der Fassade in Richtung Werderstraße.*(2) Seine Dimensionen schufen die Intimität für Besprechungen, kleine Konferenzen und die Ruhe eines Wartezimmers. Die historische Fotografie zeigt vier Armlehnstühle mit schwarzem Lederpolster um einen runden Glastisch gruppiert. Die modernen Stahlrohrmöbel fügen sich in die reduzierte Gestaltung ein und füllen bereits die Hälfte des Raumes. Klare, kühle und reflektierende Materialien bestimmen die Ausstattung, so die grüne Glasverkleidung der Wände.*(3) Zwischen den Fenstern, mit Blick auf die Werderstraße, verlaufen vertikale Lichtsäulen. Freistehend sind sie lediglich durch Metallstreben mit Pfeilern und Architektur verbunden. Wie auch die Deckenlampe greifen sie die bekannte Lichtgestaltung in Innen- und Außenraum wieder auf.

 

Moderne versus Historismus – Fortschritt und Tradition

Blickt man retrospektiv auf die Entstehung des NORAG-Hauses, verbindet sich Tradition mit Fortschritt: Der moderne Bau wies jegliche Raffinesse neuester Technik auf, umschloss gleichzeitig aber die Architektur einer bürgerlichen Villa der 1880er Jahre. Im Inneren des Rundfunkhauses trifft das 19. auf das 20. Jahrhundert, Alt- auf Neubau, Historismus auf Moderne. Die radikal moderne Innenraumgestaltung wird im direkten Vergleich des Hertz-Raumes mit der Wartehalle der Engelbrecht’schen Villa deutlich: Die massiven Holzmöbel, reich stuckierten Decken, aufwendigen Türvertäfelungen und der große gemusterte Teppich auf dem Holzboden der Wartehalle entstammen noch dem Historismus. Der Blick in den Hertz-Raum zeigt den Kontrast: Minimalismus, die klare geometrische Gliederung wie auch die Materialität von Metall und Glas bestimmen die Gestaltung.

 

Kupferrelief von Ludwig Kunstmann

Heinrich-Hertz-Raum, Funkhaus (1931) © NDR Archiv
Heinrich-Hertz-Raum (1931)

Ein Hochrelief aus Kupfer bildet den Blickfang des Raumes. Es ist an der schmalen Stirnseite zentriert in einem vertikal vorgesetzten Paneel eingefasst. Das reflektierende Material, der Kontrast zur hellen Vertäfelung des Raumes und die zentrale Position heben das Porträt stark hervor. Bildhauer Ludwig Kunstmann (1877–1961) porträtierte Heinrich Hertz mit markanten Gesichtszügen. Die dunklen Augen sind konturiert, die Haare nebst Vollbart und Augenbrauen durch feine Linien gegeben. Der Blick des Porträtierten scheint fokussiert, die Mundwinkel sind leicht erhoben. Kopf, Stirn- und Augenpartie betonen den Wissenschaftler, dessen Arbeit im direkten Dialog mit der NORAG steht. Ein Fries benennt in serifenloser Versalienschrift die Widmung des Raumes: "HEINRICH HERTZ *1857 †1894".*(4) Das gemeinsame Material und die aufeinander abgestimmten Elemente von Relief, Paneel und Fries legen die Gestaltung des gesamten Programms durch Ludwig Kunstmann nahe.

 

Kunstmann, Hertz und die NORAG

Kunstmann war einer der zentralen Bildhauer der 1920er Jahre in Hamburg und übernahm eine Vielzahl an öffentlichen Aufträgen und Bauplastiken in der Hansestadt.*(5) Eng arbeitete er mit den Architekten Puls & Richter zusammen: So schuf er die Marienstatue zum Umbau des Marienkrankenhauses (1927) in Hamburg-Hohenfelde und die Bronzestatuen für den Daniel Bartels Hof am Alten Teichweg (1927). Im Eröffnungsjahr des NORAG-Hauses 1931 waren Ludwig Kunstmann, Friedrich Wield, wie auch Albert Woebcke explizit adressiert, Entwürfe für ein Denkmal zu Ehren von Heinrich Hertz einzureichen. Wield bekam für seine Ätherwelle den offiziellen Zuschlag. Doch dass ein Hertz-Porträt von Kunstmann bereits 1930 fester Bestandteil der Architektur des Funkhauses war und dieser in direktem Anschluss um einen weiteren Entwurf gebeten wurde, betont die Nähe von NORAG, Hertz und Kunstmann und schließlich auch der Ätherwelle Wields – gleichzeitig aber auch die Relevanz des Hertz-Raums.

 

Ernst Barlach – Reliefs für den Klavierraum

Klavierraum mit Barlach-Reliefs, Funkhaus (1931) © NDR Archiv
Klavierraum mit Barlach-Reliefs, Funkhaus (1931)

Neben der Würdigung von Heinrich Hertz bildeten zwei Reliefs von Ernst Barlach (1870-1938) den einzigen künstlerischen Schmuck des NORAG-Hauses. Im rechten Klavier- und Übungsraum, im Erdgeschoss des Neubaus, waren die Terrakotten in eine Wand eingelassen und direkt mit der Architektur verbunden. In einem modernistisch reduzierten Raum, der Proben und Korrepetition diente, fanden sich ein Flügel, vereinzelte Stühle und ein Mikrofon als intime Probensituation. Auch die prägnante Beleuchtung ist hier erneut aufgegriffen. Die beiden Werke Barlachs treten dezent aus ihren geometrischen Nischen hervor. Zwischen Flügel und Pianist sind sie mittig auf der Wand angeordnet und in der Höhe leicht versetzt.

 

Barlach-Reliefs, Funkhaus (1931), Foto: NDR Archiv, aus: Prühs 1990 © NDR Archiv, aus: Prühs 1990
Barlach-Reliefs (1927)

Die Reliefs entstammen dem Fries der Lauschenden (1930–1935). Zunächst entwarf Barlach die Figuren 1926 im Zuge eines Denkmals zum 100. Todestag Ludwig van Beethovens.*(6) Da das Denkmal nicht realisiert wurde, erweiterte Barlach das Programm und verfolgte die Idee eines zehnteiligen Frieses. 1927 entstanden vorerst vier Terrakotten, je in sechs oder sieben Exemplaren: Der Wanderer, Die Tänzerin, Die Erwartende I und Der Begnadete II. Eine dieser Werkgruppen erwarb die NORAG 1929 für das neue Funkhaus. In der Brief-Edition Barlachs sind alle vier Terrakotten für den Ankauf gelistet,*(7) doch lassen sich in historischen Fotografien und den zur Eröffnung publizierten Texten nur zwei von ihnen verorten: Die Erwartende und Der Wanderer.

 

Fries der Lauschenden

Insgesamt neun Figuren verdeutlichen im Fries der Lauschenden die Wirkung von Musik auf den Menschen. So zeigt sich in verschiedener Weise die Hingabe des Lauschens, die stille und regungslose Kontemplation, das Versinken in den Klang. Die Gewandfiguren in ihrer sakralen Anmutung haben, mit wenigen Ausnahmen, die Augen geschlossen. Sie verharren in einer verschlossenen Pose, Arme und Beine eng am Körper – streng bei sich, auf die Musik konzentriert.

Die Wahl der Barlach Terrakotten erweist sich als sehr stimmiges Thema für das künstlerische Bildprogramm eines Rundfunkhauses. Sie fanden sich 1931 im Konzertraum mit Flügel – mit direkter Referenz zu ihrem Ursprung und der Musik Beethovens. Auch kann man sie in Hinblick auf die Aufgabe eines Rundfunkunternehmens lesen, seine Hörer*innen zum kontemplativen Lauschen zu begeistern. Bis heute ist der Fries der Lauschenden von Barlach Anlass zu verschiedenen musikalischen Interpretationen.

 

Vom Beethoven-Denkmal zum Fries der Lauschenden

Die Terrakotten zeigen den Zwischenschritt aus Beethoven-Denkmal und dem Fries der Lauschenden. Barlach hatte 1930 von der Schauspielerin Tilla Durieux, Witwe des verstorbenen Paul Cassirer, den Auftrag bekommen, den Fries für ihr Musikzimmer auszuführen. Aufgrund der politischen Situation und der zunehmend gefährdeten Lage ihres Mannes, dem jüdischen Industriellen Ludwig Katzenellenbogen, musste die Arbeit am Fries bereits 1931 unterbrochen werden. Mit der Emigration des Paares in die Schweiz 1933 hatte sich der Auftrag in Gänze zerschlagen. Die drei fertiggestellten, großformatigen Holzfiguren verblieben bei Barlach.

 

Hermann F. Reemtsma und die Lauschenden

Skulpturen von Ernst Barlach "Fries der Lauschenden" vor einer weißen Wand. © Ernst Barlach Haus - Stiftung Hermann F. Reemtsma Foto: Andreas Weiss
Ernst Barlach: Fries der Lauschenden, 1930–35, Ernst Barlach Haus – Stiftung Hermann F. Reemtsma

Im November 1934 beauftragte Hermann F. Reemtsma den Bildhauer mit der Fertigstellung des Frieses.*(8) Dies war der Anfang einer engen Verbundenheit von Reemtsma und Barlach. Ende 1935 hielt die Werkgruppe von neun Holzfiguren in seinem Wohnhaus in Hamburg-Othmarschen Einzug. Reemtsma sollte den Künstler auch während der zunehmenden Anfeindungen durch die Nationalsozialisten bis zu seinem Lebensende und darüber hinaus unterstützen. So veranlasste er 1936 einen Privatdruck zum Fries mit den dazugehörigen Zeichnungen. 1937 waren Barlachs Werke bereits auf der Ausstellung "Entartete Kunst" in München zu sehen. Letztlich wurden rund 400 seiner Werke aus musealem Besitz beschlagnahmt und fielen der NS-Kunstpolitik zum Opfer.

Ende der 1950er Jahre begann Reemtsma mit den Planungen eines Ernst Barlach Hauses, das seine mittlerweile umfassende Privatsammlung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen sollte. Die Eröffnung im Jenisch Park 1962 würde der Stifter nicht mehr erleben, doch hatte er sich kontinuierlich dafür eingesetzt, dass Barlachs Wirken im öffentlichen Bewusstsein blieb. Die enge Verbundenheit hatte mit dem Fries der Lauschenden begonnen. Seine neun Holzfiguren sind als Teil seiner Stiftung seit 1962 im Ernst Barlach Haus verwahrt und öffentlich ausgestellt.

 

Zerstörung der Werke im Nationalsozialismus

Die politische Situation in der NS-Zeit hatte für Barlach und sein Werk verheerende Folgen. Auch die Terrakotten im Konzertraum des NORAG-Hauses sind zerstört. Sie "wurden Ende der 1930er Jahre von einem nationalsozialistisch gesinnten Mitarbeiter zerschlagen".*(9)

Der Heinrich-Hertz-Raum samt seinem Bildschmuck ist ebenfalls den Nationalsozialisten zum Opfer gefallen. Obwohl sein Verschwinden zeitlich nicht gesichert ist, liegt die Vermutung seines Abbaus oder gar seiner Zerstörung in dieser Zeit nahe. Hertz verschwand als Jude aus dem Bildprogramm, dem "Bewusstsein" und in erster Linie aus jeglicher Außenwirkung. Die stolze Identifikation mit dem Hamburger Wissenschaftler und seinem Wirken hatte ein radikales Ende erfahren.

Somit ist das gesamte, so programmatische Bildprogramm des NORAG-Hauses von 1931 verloren – ein Grund mehr, die Geschlossenheit und Intention des architektonischen und künstlerischen Programms erstmals umfassend herauszustellen und zu würdigen.

 

Wiedereinzug

Die ursprünglichen Intentionen des verlorenen Bildprogramms wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sukzessive wieder aufgegriffen. So beauftragte der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) zum Einzug in die ehemalige Synagoge den Hamburger Maler Willi Titze mit einem Wandgemälde. Titze griff 1948 mit dem Orpheus-Motiv das "Lauschen" wieder auf und bezog sich auf das neu geschaffene Musikhaus, mit zwei Studioräumen und einem großen, öffentlich zugänglichen Konzertsaal.

Auch Heinrich Hertz hielt erneut Einzug an die Rothenbaumchaussee, wenn auch wesentlich später: Die präsenteste Würdigung des Wissenschaftlers ist wohl sein Denkmal, die Ätherwelle von Friedrich Wield. 1988 posthum gegossen, wurde sie 2016 von der Alster an das ehemalige Landesfunkhaus des NDR versetzt. Ferner finden sich zwei Porträts, deren Urheber*innen bislang unbekannt blieben: eine Büste im Archiv und das bereits erwähnte Relief im Eingangsbereich zum Gästezentrum des NDR. In seiner Geburtsstadt Hamburg ist der Physiker in vielerlei Hinsicht präsent – prominentestes Beispiel wohl der nach ihm benannte Fernsehturm, das höchste Gebäude der Hansestadt.

 

Das Haupthaus des NDR Hamburg an der Rothenbaumchaussee. © NDR

Funkhaus (1930/31), Puls & Richter, Architekten

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Blick auf den Haupteingang des Funkhauses an der Rothenbaumchaussee. © NDR Foto: Andrea Völker

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