Cover des Buches "Der chinesische Paravent" von Nicola Kuhn. © dtv Verlag
Cover des Buches "Der chinesische Paravent" von Nicola Kuhn. © dtv Verlag
Cover des Buches "Der chinesische Paravent" von Nicola Kuhn. © dtv Verlag
AUDIO: Kolonialismus in deutschen Wohnzimmern: Woher stammen Erbstücke? (3 Min)

Kolonialismus in deutschen Wohnzimmern: Woher stammen Erbstücke?

Stand: 05.04.2024 08:16 Uhr

Historikerin Nicola Kuhn hat im Hamburger MARKK aus ihrem Buch "Der chinesische Paravent" gelesen - Geschichten exotischer Erbstücke mit unbekanntem Ursprung. Das Interesse an privater Provenienzforschung steigt.

von Kerry Rügemer

In elf Kapiteln stellt Nicola Kuhn in ihrem neuen Buch Familienerbstücke vor, die seit Generationen exotisches Flair in deutschen Wohnzimmern verbreiten, ohne dass die Nachfahren eigentlich wissen, woher und unter welchen Umständen der Gegenstand einst nach Deutschland kam. Inspiriert hat Nicola Kuhn der titelgebende chinesische Paravent, den sie von ihrem Urgroßvater geerbt hat.

"Der chinesische Paravent": Der Urgroßvater in neuem Licht

"Meine Mutter hat tatsächlich immer die Geschichte erzählt, es sei ein Geschenk des Kaisers von China an ihren Großvater gewesen. Umso älter ich wurde, umso weniger konnte ich mir das natürlich vorstellen", berichtet die Autorin. "Auch der Anruf bei meinem Onkel hier in Hamburg brachte zutage: 'Du musst wissen: Dein Urgroßvater hat die deutschen Truppen im Boxerkrieg in China proviantiert - das hat heute einen haut goût, also einen schlechten Beigeschmack'."

Nicola Kuhn fängt an, in der Familiengeschichte zu graben. Ihr Urgroßvater Carl Bödiker galt bis dahin als erfolgreicher Hamburger Kaufmann, der wie viele andere ein Geschäft in der damaligen deutschen Kolonie Tsingtau in China betrieb. Wie er tatsächlich an den wertvollen Paravent kam? Keiner weiß es mehr. "Die Tatsache, dass dieser Paravent oder dass dieses Textil nur ein halbes ist - es ist nur ein Drache darauf zu sehen -, deutet auf einen Gewaltzusammenhang hin", berichtet Kuhn. "Es könnte sein, dass er aus dem Boxerkrieg beziehungsweise aus der anschließenden Plünderung stammt, die durch die alliierte Armee durchgeführt wurde."

Provenienz im Privaten: Neue Entwicklung

Plötzlich erscheint der Urgroßvater in einem völlig neuen Licht: "Es sind nicht mehr die Heldengeschichten, es sind nicht mehr die Abenteuer, es ist auch nicht mehr die Exotik, die da mit ins Wohnzimmer kommt, sondern es sind auf einmal auch die Verbrechen des Kolonialismus. Man muss sich schon die Frage stellen: Welche Rolle hat mein Urgroßvater gespielt?"

Wie Nicola Kuhn geht es vielen. Zartes Porzellan aus dem fernen China, ein Speer oder Hocker aus Afrika, Elfenbeinschnitzereien - alles seit Anfang des letzten Jahrhunderts in Familienbesitz. Elf Geschichten solch kolonialer Gegenstände erzählt sie in ihrem Buch. Mit der Herkunft, der Provenienz, vieler Objekte vor allem in ethnologischen Häusern, beschäftigen sich die Museen bereits seit einiger Zeit. Relativ neu ist das Thema im privaten Bereich - und es bewegt viele Menschen. Die Lesung ist jedenfalls rappelvoll. Und nicht wenige sehen plötzlich geerbte Familienstücke mit anderen Augen.

Was tun, wenn man Gegenstände unbekannten Ursprungs erbt?

Für Geraubtes aus der NS-Zeit gibt es längst Provenienzforschungen in vielen Museen - bei kolonialem Erbe, zumindest im privaten Bereich, mangelt es bislang daran. Die Frage nach Unterstützung bei der Recherche durch Experten bewegt die Besucher ganz besonders an diesem Abend. Denn was macht man, wenn man einen solchen Gegenstand erbt?

"Das ist gar nicht so einfach", sagt Kuhn. "Aber ich würde sagen: Sich einfach an die ethnologischen Museen wenden und fragen - und vielleicht entsteht genau durch diesen Druck, der dadurch aufgebaut wird, eine Stelle, an die man sich offiziell wenden kann, denn das ist etwas, das fehlt. Was ich gerne anstoßen würde, ist, dass privaten Besitzern da auch eine Hilfestellung gegeben wird."

Kolonialismus in deutschen Wohnzimmern - das stark zunehmende Interesse an der privaten Provenienzforschung bezeichnet Nicola Kuhn als ein "gesamtgesellschaftliches Erwachen aus der Amnesie". Dafür braucht es vermehrte Aufmerksamkeit - und eben dringend eine Anlaufstelle für Ratsuchende, so das eindeutige Fazit des Abends!

Weitere Informationen
Hauptgebäude der Universität Hamburg © picture alliance/dpa Foto: Bodo Marks

Neue App zu Hamburgs Kolonialgeschichte im Praxis-Test

Ein Projekt an der Uni Hamburg erforscht die koloniale Vergangenheit der Stadt. Jetzt ist eine App erschienen, die koloniale Orte sichtbar macht. mehr

Das Bismarck-Denkmal im Hamburger Stadtteil St. Pauli. © NDR Foto: Heiko Block

Hamburgs Bismarck-Denkmal: Worum geht es bei der Diskussion?

Sanierung, Kolonialismus-Debatte, historische Neu-Kontextualisierung, Ideenwettbewerb: Antworten auf die wichtigsten Fragen. mehr

Ein Straßenschild vom "Woermannstieg", benannt nach dem Kaufmann und Plantagenbesitzer Adolph Woermann. © Screenshot

Wie geht Hamburg mit kolonial belasteten Straßennamen um?

In Ohlsdorf werden mehrere Straßen umbenannt, die in Zukunft Opfer und Widerständler des Kolonialismus ehren. mehr

Das Bismarck-Denkmal in Hamburg © imago images/ Manngold

Kolonialismus: Wie gedenkt Hamburg der Verbrechen?

Viele Hamburger Kaufleute haben durch den Kolonialismus profitiert, oft mit skrupellosem Vorgehen. Die Aufarbeitung in den Unternehmen geht nur schleppend voran. mehr

Das MARKK, ehemals Museum für Völkerkunde in Hamburg. © MARKK Foto: Paul Schimweg

Museum am Rothenbaum - Kulturen und Künste der Welt (MARKK)

Das MARKK ist das ehemalige Hamburger Völkerkundemuseum. Es zeigt Kunst und Kulturen aus allen fünf Kontinenten. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 05.04.2024 | 07:20 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Kunsthandwerk

Museen

Ein Mann steht vor Bildern in einem Museum. © Panthermedia Foto: anyaberkut

Museen und Ausstellungshäuser im Norden

Kulturell ist in Norddeutschland für jeden was dabei. NDR.de stellt Ihnen zum Start der Ferienzeit ausgewählte Museen vor. mehr