Kind im Zweiten Weltkrieg: Buch sammelt berührende Erzählungen

Stand: 08.05.2024 14:15 Uhr

Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg. Viele noch lebende Kriegskinder erinnern sich an Erlebnisse und an bestimmte Gegenstände. Ihre Geschichten finden sich in dem berührenden Buch "Warum hängt daran dein Herz?".

von Joschka Brings

Es sind Gegenstände wie Kleiderbügel oder Handschuhe, die Menschen, die als Kinder den Zweiten Weltkrieg überstanden haben, an ihre Eltern erinnern: Eltern, die Dinge im Krieg erlebt haben, die so schrecklich waren, dass sie nicht darüber sprechen konnten. Bei Jutta Montag sind es Fotos und Aufzeichnungen ihres Vaters.

"Eines Morgens kam eine Frau rein, fasste Mami an und sagte, 'Deine Mutter ist tot. Jutta, du musst aus dem Bett.' Ich habe immer geschrien und geweint: 'Nein, das stimmt nicht.' Und habe Mami angestoßen und gefragt: 'Mami, lebst du noch?' Aber sie gab keine Antwort." Jutta Montag liest ihre eigene Geschichte aus dem Buch vor. Sie ist sechs Jahre alt, als sie gemeinsam mit ihrer Mutter in ein russisches Arbeitslager kommt. Dort erlebt sie den Tod ihrer Mutter.

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Papa wird dich wiederfinden

"Hungertyphus hatten die alle. Das war also ganz schlimm. Es stank bestialisch, und die bluteten. Das war ganz schlimm, und nachher war sie so schwach, dass ich mit sechs Jahren sie auf den Donnerbalken geschleppt habe. Also, was ich da alles durchgemacht habe", erzählt Montag. "Ich hatte schon keine Schühchen mehr. Im Winter lief ich da barfuß, und da gab es einen deutschen Arzt, der hat solche großen gelben Tabletten verteilt. Es sollte wohl gegen Typhus sein. Und da hat meine Mutter gesagt: 'Du isst meine Tablette mit, denn der Papa wird dich wiederfinden.'"

Jutta Montag schafft es tatsächlich alleine nach Deutschland. In dieser Zeit immer dabei - ein Fotoalbum. Erinnerung an glückliche Zeiten. Sie kommt ins Kinderheim."Und da hatte ich meine ganzen Bilder ausgebreitet und habe geweint und von Mutti und Papa erzählt. Und da wollten die das dann wegräumen", erinnert sie sich. "Da hat der Arzt gesagt: 'Dem Kind dürfen wir diese Bilder nicht wegnehmen, sonst wird es das nicht mehr überstehen.'" Was Jutta damals noch nicht weiß: Ihr Vater hat den Krieg überlebt - eines Tages holt er sie ab. Er schreibt ihre Erinnerungen an die Zeit in russischer Gefangenschaft auf - und schließt sie dann weg. Damit scheint die Sache erledigt.

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Schuhe aus Brettern und Fahrradschläuchen

Heino Susott ist Jahrgang 1935. Seine Familie erlebt in Hamburg den Krieg und die Zeit danach in dem Haus, in dem er bis heute lebt. "Weil wir nicht ausgebombt waren - wir haben ja unsere Wohnung behalten - haben wir keine Bezugsscheine gekriegt. Und so hatten wir keine Schuhe. Wir sind barfuß gelaufen - bis November, Dezember. Dann hat mein Vater Holzbretter geschnitzt und Fahrradschläuche darüber genagelt und dann hatten wir Schuhe im Winter."

Auch Zigaretten stellt die Nachbarschaft selbst her - mit einem Tabakschneider, den Susott bis heute aufbewahrt hat. Der große Garten versorgt die Familie. Als in Hamburg der Feuersturm wütet, verlieren tausende Menschen ihr Zuhause. "Wir haben Eimer mit Wasser vor die Pforte gestellt, und Johannisbeeren, oder was gerade so frei war, hingestellt zum Essen", erinnert sich Susott. "Und die Leute haben sich bedient, einfach so mit einer Kelle oder einer Tasse in den Eimer und das Wasser getrunken. Und es war also ein gewaltiger Sturm. Das war ja Wahnsinn."

Heino Susott sagt, er habe fast alles aus der Kindheit behalten. Aber was sein Vater als Soldat in Russland erlebt hat, warum seine Eltern nichts von Vernichtungslagern mitbekommen haben - das wisse er bis heute nicht.

Mit dem Weihnachtsbäumchen zum U-Boot

Waltraut Staffeldt hat ihren leiblichen Vater nie kennengelernt - ein Marine-Soldat, stationiert auf einem U-Boot. Bis heute erinnert eine Laubsägearbeit an die Liebesgeschichte zwischen ihren Eltern. "Am Heiligabend nachts vier Uhr sollte mein Vater ausfahren. Da war sie natürlich sehr traurig", erzählt die Tochter. Die Mutter habe einen kleinen Tannenbaum gekauft und geschmückt mit Kerzen und mit Kugeln. "Mit diesen kleinen Tannenbaum ist sie dann zur Kaiser-Wilhelm-Brücke in Wilhelmshaven gegangen. Das Schiff sollte dann und dann kommen. Dann hat sie gewartet, geguckt. Und dann, nach einer Weile, sah sie den Turm." Als das U-Boot mit dem Turm unter der Brücke durchfuhr, habe die Mutter den Tannenbaum darauf geworfen.

Kurz nach Waltrauts Geburt erfährt ihre Mutter vom Tod des Vaters. Nach dem Krieg heiratet Waltraut Staffeldts Mutter erneut. Mit dem Stiefvater entsteht eine glückliche Familie. Aber selbst heute habe sie öfter auch noch Träume davon. "Es waren so Träume dabei, dass wieder etwas passiert, man wieder einen Menschen verliert. Das war eigentlich das Unschöne an der Sache. Mir muss keiner erzählen, dass er das einfach so wegtut, was er als Kind erlebt hat."

Erinnerungen lassen sich nicht wegtun

Jutta Montag und ihr Vater haben es versucht - das Wegtun. Lange liegen ihre festgehaltenen Erinnerungen verschlossen in einem Safe beim Vater. Bis in den achtziger Jahren in Deutschland über die Schrecken des Krieges gesprochen wird - und Jutta Montag nachfragt. "Dann hat er mir das geschickt. Ich habe das am nächsten Tag in der Post gehabt und geöffnet. Dann habe ich es gelesen und gedacht, ich lese das von einem fremden Kind. Das war noch gar nicht ich. Erst nach und nach kam die Erinnerung. Das muss man sich vorstellen, dann erst kam nach 38 Jahren, mit 50 Jahren diese Erinnerung."

Fotoalbum rettet Leben

Heute sagt Jutta Montag, dieses Verschließen habe ihr Leben gerettet - genau wie die Fotos aus dem Album, das sie damals immer dabei hatte. Einer von vielen Gegenständen, von denen "Warum hängt daran dein Herz?" erzählt. Symbole für Geschichten, die zu lange verschwiegen wurden.

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von Hauke und Annette Goos
Seitenzahl:
384 Seiten
Genre:
Sachbuch
Verlag:
Deutsche Verlags-Anstalt
Veröffentlichungsdatum:
24.04.2024
Bestellnummer:
978-3-421-07031-9
Preis:
28 Euro €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur - Das Journal | 06.05.2024 | 22:45 Uhr

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Zweiter Weltkrieg

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