Mitglieder des Jungen Forums gegen Antiziganismus am Nienburger Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus. © NDR Foto: Jon Mendrala

Junge Sinti und Roma in Nienburg verschaffen ihren Vorfahren Gehör

Stand: 16.05.2024 13:00 Uhr

In Nienburg an der Weser wollen junge Sinti und Roma die Geschichte ihrer Vorfahren zum ersten Mal selber schreiben. Denn die bisherige Geschichtsschreibung sei oft in einem rassistischen Kontext entstanden.

von Jon Mendrala

"Wir wollen nicht nur mit Vorurteilen aufräumen, sondern selber unsere Geschichte schreiben", sagt Maik Claasen. Der 28-Jährige engagiert sich im "Jungen Forum gegen Antiziganismus" in Nienburg an der Weser. Hier und in der Südheide in Celle leben die beiden größten Sinti und Roma Communities in Niedersachsen.

Sinit und Roma: Opfer im Holocaust

Seit September vergangenen Jahres treffen sich hier rund zehn Ehrenamtliche einmal die Woche für ein bislang einmaliges Projekt: "Das Ziel unseres Projektes ist es, den Sinti und Roma eine Stimme zu geben und den Holocaust aus unserer Sicht zu erzählen", sagt Claasen gegenüber NDR.de Niedersachsen. Dafür werden von ihnen überlebende Zeitzeugen und deren Nachfahren befragt. "Tschatscheppen" haben sie das Projekt genannt - übersetzt aus der Sprache der Sinti heißt dies "die Wahrheit".

Die Sinti und Roma im Nationalsozialismus

Der Völkermord an den Sinti und Roma wird in der Sprache der Roma - Romanes - auch "Porajmos" (das Verschlingen) genannt. Etwa 500.000 Sinti und Roma wurden von den Nazis ermordet. Damit sind sie die zweitgrößte Opfergruppe der nationalsozialistischen Rasse- und Ideologieverbrechen. Auch heute leiden noch viele Mitglieder an der Stigmatisierung, die im Völkermord gipfelte, dem Antiziganismus. Darunter versteht man die Stigmatisierung, Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen, die zur Gruppe der Sinti und Roma gehören - und jahrhundertelang als "Zigeuner" ausgegrenzt und entrechtet wurden.

Projekt aus Nienburg: Vom Land gefördert

Wissenschaftlich unterstützt der Historiker Thomas Gatter das Zeitzeugen-Projekt. Aus Landesmitteln wird es für insgesamt drei Jahre gefördert. "Wir möchten uns endlich unserer eigenen Geschichte bemächtigen", sagt Maik Claasen, der als junger Sinto selber Erfahrungen mit Diskriminierung und Vorurteilen gemacht hat. Bisher sei es so, dass Material zu ihrer Geschichte fast ausschließlich aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft geschrieben sei und sie oft auch noch in einem rassistischen Kontext stünde, klagen die Initiatoren.

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Geschichte aus der Sicht Betroffener erforschen

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DIe Initiatoren wollen mit dem Projekt der Geschichte ihrer Vorfahren Gehör verschaffen.

Ende 2023 haben die Initiatoren die ersten Gespräche geführt: Im zweitem Projektjahr wollen sie dann eine Zusammenfassung der Geschichte aus Sicht der Sinti und Roma zusammenstellen. Diese Ergebnisse sollen dann öffentlich vorgestellt und wissenschaftlich begleitet werden. "Wir hoffen sehr, uns so Gehör bei der Mehrheitsgesellschaft zu verschaffen und zu bewirken, dass unsere Volksgruppen bei Arbeiten zu ihrer Kultur und Geschichte künftig gefragt und mit einbezogen werden müssen", sagt Claasen.

Große Sinti und Roma Community in Deutschland

Seit mindestens 600 Jahren lebt die Volksgruppe in Mitteleuropa. Derzeit leben ungefähr 60.000 Sinti und 10.000 Roma in Deutschland. Die Sinti und Roma-Verbände gehen sogar von doppelt so vielen Menschen aus. Denn nicht alle bekennen sich zu ihrer Volksgruppe. Obwohl sie zu einer von vier anerkannten Minderheiten in Deutschland gehören, fühlen sich viele Mitglieder der Gemeinschaft in Deutschland ausgegrenzt und diskriminiert. Das "Z-Wort" (Anm. d. Red.: "Zigeuner") beschäftigt viele Sinti und Roma bis heute: Es ist nicht nur Stigma für Betroffene. "Es bleibt eine rassistische Fremdbeschreibung und das Wort ist eine große Blase mit vielen negativen Attributen", sagt Claasen.

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Gegenwart der Vergangenheit

Die Erfahrungen aus der NS-Zeit wirken bis heute nach und das Misstrauen gegen Behörden ist bis heute nicht verflogen: Gerade, weil damals nicht die SS die Familien verhaftete, sondern die "normale" Schutz- oder Kriminalpolizei. Diese "transgenerativen" also generationsübergreifenden Traumata betreffen fast jede Familie, die Angehörige verloren hat. "Es hat ja nie wirklich aufgehört. Die Erniedrigung, Diskriminierung und Ausgrenzung ging nach 1945 weiter", sagt Claasen - denn die Polizei führe noch immer Akten mit dem stigmatisierenden Vermerk "Angehöriger einer Großfamilie" mit ganzen Stammbäumen. Maik Claasen will sich daher weiter engagieren: für eine Gesellschaft ohne Diskriminierung und Ausgrenzung. Als Nienburger, Bundesbürger und Mensch.

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