Wie aktuell ist der Schriftsteller Uwe Johnson?

Stand: 14.05.2024 11:44 Uhr

Die "Jahrestage" von Uwe Johnson sind ein Jahrhundertwerk, ein einzigartiges Zeitdokument und trotzdem zeitlos. Charly Hübner und Caren Miosga haben das Mammutwerk als Hörbuch veröffentlicht und bringen es als szenische Lesung auf die Bühne.

von Ralf Dörwang

Ein Mann mit Mut zu Selbstreflexion und großer Sprachkunst - Uwe Johnson, 1970 in New York: "Manchmal bin ich so müde, dass ich genauso unordentlich rede wie ich denke. Ich finde das nicht ordentlich, wie ich denke." Aber er hat ein sehr ordentliches Mammutwerk mit rund 2.000 Seiten hinterlassen: "Jahrestage".

Uwe Johnson als Chronist

Da müssen der Schauspieler Charly Hübner und die Moderatorin Caren Miosga in Auszügen durch. "Ich habe es das erste Mal mit 19 gelesen. Da habe ich anderthalb Jahre gebraucht", erzählt Charly Hübner. "Das ist schnell. Wenn man es nach zehn oder 30 Jahren nochmal liest, ist es immer wie ein neues Erlebnis. Das ist der Versuch, Gesellschaft, Leben, Politik und inneres Sein in ein Dokument zu fassen, damit man in 150 Jahren ein bisschen wie bei Homer und Balzac sagen kann: So war das in der Zeit."

Weitere Informationen
Der Schriftsteller Uwe Johnson raucht Pfeife. © picture-alliance / Sven Simon | SVEN SIMON

Uwe Johnson: Dichter der deutschen Teilung

Die Spaltung Deutschlands war sein zentrales Motiv. Am 23. Februar 1984 starb der Dichter im Alter von nur 49 Jahren. mehr

"Ich finde, es ist verrückt, dass er als solcher Chronist, als den du ihn beschreibst, gar nicht anerkannt ist und dass viel zu wenig Leute ihn kennen", findet Caren Miosga.

"Ihr Name ist Gesine L. Cresspahl?"
"Ja."
"Haben Sie früher mal einen anderen Namen geführt?"
"Ja."
"Diente der Name dazu, ein bestehendes Gesetz zu umgehen?"
"Ja." Bühnenzitat

Verhör bei der Einreise. Hauptfigur Gesine Cressphal zieht 1953, nach dem sogenannten Volksaufstand, von Mecklenburg nach New York. Sie wird Angestellte einer Bank - damals eine Männerdomäne.

"Jetzt nimm einmal an, du kommst tatsächlich auf die Teppiche dort oben, unter die jungen Herren in feierlicher Kleidung."
"Eine Frau als Direktor in einer Bank? Das Kalb mit den sieben Köpfen. Das wäre ja gerade was für die New York Times."
"Gesine, lass das jetzt!" Bühnenzitat

Von Mecklenburg nach New York

Termine: Lesung von Uwe Johnsons "Jahrestage" mit Caren Miosga und Charly Hübner

1. Juli 2024: St. Pauli Theater in Hamburg, 19:30 Uhr
3. Juli 2024: Kolosseum in Lübeck, 20 Uhr

New York, neue Welt - und Mecklenburg, alte Welt. Das ist auch der ungewöhnliche Spannungsbogen in Uwe Johnsons Leben. Seine Kindheit in Anklam und Güstrow wird im Roman zum fiktiven Dorf Jerichow. Enttäuscht von der DDR-Regierung, geht Johnson zuerst nach West-Berlin und dann nach New York.

Für Charly Hübner, der auch aus Mecklenburg stammt, war Johnson eine Entdeckung: "Ich kriegte erst in der Befassung damit mit: Wie, der ist Mecklenburger? Was ist das für ein schräger Kram? Der hat in New York gelebt? Heidewitzka, cooler Typ", sagt Hübner. "Da war die DDR gerade mal zehn Jahre alt, da ist der weg. Die haben natürlich alles versucht, den totzumachen. Das ist ihnen gelungen. Ich kannte den nicht. Man kannte Helmut Sakowski und Günter Göring, aber Uwe Johnson war ein toter Autor in der DDR."

Weitere Informationen
Cover:  Uwe Johnson - "Jahrestage" © Suhrkamp

Geschichte einer Desillusionierung

Die Romantetralogie erzählt vom dem Leben der Bankangestellten mecklenburgischer Herkunft Gesine Cresspahl. Hanjo Kesting stellt Ihnen die Bücher in "Große Romane der Weltliteratur" vor. mehr

Szenische Lesung mit Caren Miosga und Charly Hübner

Caren Miosga steht auf einer Bühne und liest © NDR Screenshot
Charly Hübner und Caren Miosga präsentieren "Jahrestage" von Uwe Johnson nicht nur als szenische Lesung, sondern haben das Werk auch als Hörbuch veröffentlicht.

Mit nüchterner Sprache und faktischer Beobachtung reflektiert Johnson seine New-York-Zeit: die Ereignisse eines Lebens und den Lauf der Geschichte. Schlicht und doch ergreifend.

"23. August 1967, Mittwoch. Die Luftwaffe flog gestern 132 Angriffe auf Nordvietnam."
"5. April 1968, Freitag. Gestern Abend wurde Martin Luther King in Memphis erschossen."
"10. Mai 1968, Freitag. Die Regierung der DDR, sie mischt sich nicht ein in die inneren Sachen unabhängiger Staaten." Bühnenzitat

1968 liegt in Prag der Einmarsch der russischen Armee in der Luft, wie schon 1956 beim Ungarn-Aufstand. Ewig her - und doch so nah kommt einem Johnson heute wieder.

"Brief genügt, komme sofort. Die Rote Armee ist bereit, ihre Pflicht zu tun."
"Sie werden es nicht tun."
"Sie sind in Ungarn einmarschiert, 1956."
"Sie werden nicht mit Panzern nach Prag gehen, nicht 12 Jahre nach Budapest." Bühnenzitat

"Wie war das denn am 23. Februar 2022, als ich in diesem Nachrichtenstudio stehe und mit der Korrespondentin in Russland rede? Die sagt zu mir: 'Nee, ganz sicher, wir trauen dem alles zu, aber das macht er nicht.' Oh - es ist passiert. Das ist heute der Spiegel mit der Ukraine", erklärt Miosga. "Das ist wirklich beängstigend und gruselig. Man kann nur dazu ermutigen, sich da reinzudenken und sich langsam vorzugraben, weil es wirklich großartig ist, wie er das montiert - die verschiedenen Zeiten, diese verschiedenen Ebenen. Also lesen!"

Oder auf der Bühne angucken! Uwe Johnsons "Jahrestage" - das immer noch zu entdeckende Jahrhundertwerk. Was würde er zu unserer Zeit heute sagen?

Weitere Informationen
Eine Stellwand mit vier hochformatigen Werken der Künstlerin Li Henn. © Li Henn / Uwe Johnson Literaturhaus

"Die Unentbehrlichkeit der Landschaft": Malerei trifft auf Johnson-Zitate

Das Uwe Johnson Literaturhaus in Klütz zeigt Bilder von Li Henn, die die norddeutsche Künstlerin mit Mecklenburger Erde gemalt hat. mehr

Undatierte Aufnahme des Schriftstellers Uwe Johnson (Archivbild) © dpa Foto: Binder

Das Uwe-Johnson-Puzzle

Uwe Johnson ist ein weltberühmter Schriftsteller aus Mecklenburg, den dort aber kaum einer kennt. Oder? Alexa Hennings stellt in ihrem Feature Nachforschungen an. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur - Das Journal | 13.05.2024 | 22:45 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Romane

Ein Latte Macchiato, eine Brille und eine Kerze liegen auf einem Buch © picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Neue Bücher 2024: Die spannendsten Neuerscheinungen

Unter anderem gibt es Neues von Dana von Suffrin, Michael Köhlmeier und Bernardine Evaristo. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Der Schriftsteller Saša Stanišić steht neben einem Globus. © picture alliance Foto: Robert B. Fishman

Migration als emotionales Erbe: "Herkunft" in der Literatur

Saša Stanišić gab einem seiner Romane den Titel "Herkunft". Auch andere Autorinnen und Autoren treibt das Thema um. mehr