VIDEO: Stasi-Opfer: Wie eine Mutter 40 Jahre lang ihren Sohn suchte (4 Min)

Stasi-Opfer: Verzweifelte Suche nach Sohn Dirk hat ein Ende

Stand: 03.05.2024 11:00 Uhr

Rund 40 Jahre lang hat Heidi Stein ihren Sohn Dirk gesucht. Die Vermutung der ehemaligen DDR-Bürgerin: Die Stasi hat eine Entführung vertuscht. Heute glaubt die Mutter zu wissen, wo ihr Kind geblieben ist.

Für Heidi Stein ist es das Schlimmste in ihrem Leben: Im März 1979 verschwindet ihr Sohn Dirk in der DDR spurlos bei einem Familienausflug. Dirk ist damals drei Jahre alt. Heidi Stein, ihr Mann und die Kinder Silvia und Dirk wollen eine Gipshöhle besuchen. Dort sieht sie Dirk das letzte Mal. Erst nach rund 40 Jahren ist für Heidi Stein die verzweifelte Suche zu Ende. Sie glaubt nämlich, herausgefunden zu haben, was mit ihrem Kind passiert ist. Sie meint auch zu wissen, wo Dirk lebt, sagt sie in der Sendung "DAS!" Ende April 2024.

"Wo ist Dirk?"

Als die Familie 1979 an ihrem Ausflugsort ankommt, hat die Höhle bei Sangerhausen im heutigen Sachsen-Anhalt noch geschlossen. Die Eltern nutzen die Zeit, um im Auto etwas umzuräumen. Sie lassen die Kinder an einem zugefrorenen Bach spielen - in Sichtweite. Nach zehn Minuten will Heidi Stein Dirk und Silvia holen. "Da kommt mir meine Tochter Silvia entgegen. Und ich frage: 'Wo ist Dirk?' Silvia blickt sich um, als wolle sie sagen: 'Warum fragst du, Dirk steht doch direkt hinter mir.' Und seitdem suchen wir Dirk", sagt Heidi Stein, die später nach Gifhorn gezogen ist, dem NDR im Jahr 2014. Ihre Stimme zittert.

Volkspolizei: Dirk ist ertrunken

Die Ortsfeuerwehr stellt die Suche noch in derselben Woche ein. Der "Fall Dirk" wird zu den Akten gelegt. Die Volkspolizei Sangerhausen geht von einem Unfall aus. Der Junge sei im Bach ertrunken, heißt es in den Ermittlungsakten. Bereits hier kommen Heidi Stein erste Zweifel an den Ermittlungen. Sie stellt Fragen, die kein Beamter beantworten kann. Wie hätte ein dreijähriges Kind in einem bis zum Grund gefrorenen Bach ertrinken können? Bei der Suche am Unglücksort standen doch die Feuerwehrleute auf dem Bach, stocherten mit Eisenstangen ins Eis, ohne einzubrechen. Warum hat man nie einen Leichnam gefunden? Oder irgendein Kleidungsstück?

Was wusste die Stasi?

Und es gibt noch mehr rätselhafte Indizien. Heidi Stein erinnert sich an ein Auto auf dem Parkplatz. Blau, russisches Fabrikat, Marke Moskwitsch. Ein Auto, das sich nur wenige in der DDR leisten konnten und das vorrangig von sowjetischen Militärs oder Stasi-Mitarbeitern gefahren wurde. Die Insassen: ein Pärchen. Als Dirk verschwunden ist, fehlt auch von dem Moskwitsch jede Spur.´

Aus ihrer Stasi-Akte erfährt Heidi Stein nach der Wende: Die Spur des blauen Moskwitsch wurde von der Volkspolizei nicht verfolgt. Das Paar wurde nie befragt. Auf Anweisung der Stasi, wie es scheint. Denn in den Akten findet sich ein Hinweis der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit aus Leipzig. Darin heißt es zu den Ermittlungen um das blaue Auto: "Bei möglicher Identifizierung sind keinerlei Maßnahmen einzuleiten. Fehlmeldung ist zu geben." Heidi Stein erfährt aus ihrer Stasi-Akte auch, dass sich ein Mitarbeiter der Staatssicherheit aus Halle auf den Weg zum Unglücksort macht, kurz nachdem die Feuerwehr alarmiert wurde. Was will die Stasi dort?

Weitere Informationen
. © Screenshot
4 Min

Einblick in ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte

Ein beklemmender aber auch hochinteressanter Arbeitsplatz in der Normannenstraße im Osten von Berlin. 4 Min

"Ich fühlte mich wie der Staatsfeind Nummer 1"

Die Stasi-Akte umfasst knapp 1.300 Seiten. Aber warum sammelte die Behörde überhaupt so umfangreiche Informationen über Heidi Stein? Sie war doch nur eine Mutter auf der Suche nach ihrem Kind. Nicht für das SED-Regime, sagt Stein. Denn auf ihrer verzweifelten Suche wendet sie sich mit Briefen an ihre Cousine im Westen, in Salzgitter. Stein bittet sie darum, Dirks Verschwinden und ihren Hilfeschrei nach Aufklärung an westdeutsche Zeitungen und Hilfsorganisationen wie Amnesty International weiterzuleiten.

Für die Herrschenden des DDR-Regimes ist das offenbar ein verbrecherischer Akt. Die Folge: Stein kommt ins Gefängnis. Zunächst für sechs Monate in U-Haft in Dresden, dann ins berüchtigte Stasi-Gefängnis Bautzen II. "Ich fühlte mich wie der Staatsfeind Nummer 1", sagt sie. Was sie in der Haft erlebt, hat sich in ihre Seele eingebrannt: "Es ist ein Einschnitt ins Leben. Am ersten Tag muss man sich entkleiden, total entkleiden. Das ist für eine Frau fürchterlich schlimm. Als ich dann in Hemd und Höschen da stand, sagten die: 'Das auch noch.' Das ist eine Peinlichkeit, die werde ich nie vergessen. Diese Ohnmacht spüre ich heute noch", so Stein 2014.

"Psychische Folter" in der Haftzeit

In der Untersuchungshaft beginnt auch die psychische Folter durch die Stasi für sie. Einsamkeit, Schlafentzug, stundenlange Verhöre: "Natürlich habe ich am Anfang überhaupt nichts gesagt. Bis man mich erpresst hat, ich gesehen habe, dass da Briefe von meinen Kindern und meiner Mutter sind. Die bekam ich erst zu lesen, wenn ich Informationen gab. Wenn ich das sagte, was der Vernehmer wissen wollte. Das war Psychoterror", beschreibt Stein die Verhöre. 2024 wiederholt sie diese Aussagen in der NDR Sendung "DAS!" und spricht von "psychischer Folter".

Weitere Informationen
Historikerin Daniela Münkel auf dem roten Sofa. © Screenshot
ARD Mediathek

DAS! mit der Historikerin Daniela Münkel

Auf dem Roten Sofa berichtet sie über ihre spannende Arbeit als Leiterin der Forschung im Stasi-Unterlagen-Archiv. Video

Polizei Gifhorn schaltet sich ein

Heidi Stein steht am Ufer eines Gewässers.
Heidi Stein steht 2014 an dem kleinen Bach, in dem ihr Sohn laut Stasi angeblich ertrunken sein soll.

Nach 19 Monaten Haft wird Heidi Stein vom Westen freigekauft. An ihrem Wohnhaus nahe Gifhorn hat sie eine Überwachungskamera an ihrem Wohnhaus angebracht - für ein wenig Sicherheit. Vor Jahren nimmt die Polizei Gifhorn Ermittlungen auf. Die Beamten durchleuchten den Fall neu und versuchen die rätselhaften Indizien von damals zu prüfen. Und tatsächlich halten die Gifhorner Ermittler auch eine Entführung Dirks für möglich. Dafür spreche, "dass der Leichnam nicht aufgetaucht ist und auch kein Bekleidungsstück. Zudem gebe es eine Spur - der Mann und die Frau in einem Moskwitsch auf dem Parkplatz zum Zeitpunkt des Verschwindens - der damals nicht nachgegangen wurde", schreibt der zuständige Ermittler auf NDR Anfrage 2014.

Die Frage nach dem Einfluss der Stasi auf die damaligen Ermittlungen beantwortet der Ermittler so: Die Stasi habe "zeitnah darauf hingewirkt, dass das erste Ermittlungsergebnis, Tod durch Ertrinken, manifestiert wird". Heidi Stein bekommt Hoffnung: "Das ist das erste Mal, dass ich spüre, dass mir jemand im Fall Dirk hilft und die Sache kriminalistisch betreibt. Nicht so larifari unter Einfluss der Stasi."

Mutter glaubt, Sohn gefunden zu haben

40 Jahre nach Dirks Verschwinden glaubt sie, ihn gefunden zu haben - in dem Ort im Harz, von wo er verschwunden ist. Dirk sei von den Besitzern des blauen Autos adoptiert worden, sagt sie in der DAS!-Sendung 2024. Das wisse sie aus zuverlässiger Quelle. Allerdings benennt sie diese nicht. Der Adoptivvater sei Stasi-Major gewesen. Eine vage Vermutung: Er könnte damals den Dreijährigen auf dem Parkplatz angefahren haben und seine Schuld vertuschen wollen. Zwei Mal hat Heidi Stein nach eigener Aussage ihre Stasi-Akte nach Hinweisen durchforstet. Beim zweiten Mal hätten plötzlich 400 Seiten gefehlt, sagt sie. Warum? Das ist unklar - und auch "nicht denkbar", wie die Leiterin der Forschung im Stasi-Unterlagen-Archiv, Daniela Münkel, in der Sendung betont. "Wir manipulieren definitiv keine Akten."

Was Heidi Stein für sich herausgefunden zu haben glaubt: Ihr Sohn Dirk möchte keinen Kontakt zu ihr. Sie sei ihm fremd. Dafür habe sie Verständnis, sagt sie. Sie sei nur froh, dass die Suche für sie ein Ende hat.

Weitere Informationen
Überwachungstechnik der Stasi: Im Rahmen der Ausstellung "Verdeckt und getarnt" sind 2008 eine Kamera in einem Knopf und ein Infrarotblitz zu sehen. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS Foto: Jens Meyer

Die Stasi und ihre Opfer

Ab den 70er-Jahren setzt das MfS der DDR vermehrt auf "leise" Formen der Repression wie das "Zersetzen" von Regime-Gegnern. mehr

Archivierte Akten von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) lagern in den Räumen der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin. © picture alliance / dpa Foto: Rainer Jensen

FAQ: Der Weg zur eigenen Stasi-Akte

Gibt es auch über mich eine Stasi-Akte? Die wichtigsten Informationen zum Antrag auf Akteneinsicht und das weitere Verfahren. mehr

Ein Mann mit Kopfhörern sitzt hinter einem Tonbandgerät © PantherMedia Foto: NEW_PHOTOS

Die Stasi - Mitten in Niedersachsen

Top-Spione, IM und Stasi-Opfer - was gefühlt eher in die DDR gehört, hatte in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts auch seinen festen Platz und ebensolche Strukturen in Niedersachsen. mehr

Eine Intershop-Filiale in Ostberlin im Luxushotel Metropol, aufgenommen am 10.11.1977. © dpa/picture alliance Foto: Günter Bratke

Die Geschichte der DDR

Wie kam es zur Gründung der DDR? Wie sah der Alltag im Arbeiter- und Bauernstaat aus? Und was führte schließlich zum Mauerfall und zur Wiedervereinigung? mehr

Dieses Thema im Programm:

DAS! | 30.04.2024 | 18:45 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

DDR