Ukraine bei der Hockey-EM: "Für ein, zwei Stunden alles vergessen"

Stand: 07.12.2022 11:45 Uhr

Das ukrainische Frauen-Nationalteam ist bei der Hallenhockey-EM in Hamburg dabei. Dafür trainierte die Mannschaft drei Wochen beim TTK Sachsenwald - fernab vom Krieg, aber auch weit weg von Familie und Freunden.

von Christina Schröder

Es ist ein etwas merkwürdiger Anblick: Zwei Hockeyspielerinnen starren auf ein Handy, das ihnen eine Mitspielerin entgegenstreckt. Sichtlich angestrengt bemühen sie sich, die Anweisungen ihres ukrainischen Athletiktrainers über das viel zu kleine Hilfsmittel umzusetzen - und scheitern kläglich. Stattdessen bricht das gesamte ukrainische Nationalteam in schallendes Gelächter aus. In diesem Moment ist die Stimmung ausgelassen, wirkt fast unbeschwert. Doch die ständig abbrechende Internetverbindung zum Trainer in der Ukraine zeigt: Der Krieg ist allgegenwärtig.

"Du bist zweigeteilt. Der eine Teil ist hier und fühlt sich sicher und wohl, aber etwas in deinem Kopf und in deinem Herzen sagt dir, dass es keine hundertprozentige Sicherheit gibt. Es ist sehr schwierig, ein normales Leben zu führen", erzählt Kapitänin Yevheniia Moroz.

EM-Vorbereitung ohne Bomben, ohne Krieg

Seit drei Wochen versucht ihre Mannschaft beim Hockeyverein TTK Sachsenwald im beschaulichen Wohltorf genau das. Hier bereiten sich die Ukrainerinnen auf die Hallen-Europameisterschaft vor, die vom 7. bis 11. Dezember in der Sporthalle Hamburg stattfindet. Ohne Bombenangriffe, ohne Luftschutzbunker - ohne Krieg.

"Wir wissen jetzt, dass die Hockeyfamilie nicht nur ein Wort ist, sondern sie ist wirklich da, wenn du sie brauchst", sagt die 34-Jährige, die am Montag mit ihrer Mannschaft das schleswig-holsteinische Wohltorf verließ und ins Turnierhotel zog. Neben zahlreichen Fahrten zu Testspielen übernahmen TTK-Mitglieder auch hier die Tour für die Spielerinnen mitsamt Gepäck zum neuen Standort. "Du musst hier etwas verlassen, das du wirklich magst. Was die Menschen aus dieser kleinen Gemeinde uns ermöglicht haben, beeindruckt uns sehr", sagt Moroz. Durch Spendenaktionen und große Unterstützung der TTK-Vereinsmitglieder finanziert das Team seinen Aufenthalt in Hamburg.

Spielerinnen mittlerweile europaweit verstreut

Die Kontaktaufnahme zu dem Hockeyclub war über Damentrainer Magnus Meyer Taufmann gelaufen, der schon bei seiner vorherigen Trainerstation in Hannover im Austausch mit der ukrainischen Hockeyhochburg Sumy gestanden hatte. In der Stadt im Nordosten lebten die meisten Spielerinnen vor Kriegsbeginn zusammen im Leistungszentrum, verbrachten dort Tag für Tag miteinander, mittlerweile sind sie europaweit verstreut. Obwohl die Front weiter im Süden verläuft, ist der Krieg durch Luftangriffe überall im Land allgegenwärtig und an einen normalen Trainingsalltag nicht zu denken.

Hockey spendet Trost - "Gibt ein normales Leben"

"Sie lagen sich sehr lange in den Armen", beschreibt Meyer Tauffmann die "wahnsinnige Freude" beim Wiedersehen in Deutschland. Schnell richtete sich der Fokus aber auf das bevorstehende Turnier: "Da geht es wirklich nur um Hockey." Er habe den Eindruck, dass einige Spielerinnen die kritische Situation zuhause lieber verdrängten.

"Wenn du auf dem Spielfeld bist, vergisst du alles für ein, zwei Stunden. Du machst etwas, das zu deinem normalen Leben gehört hat. Das erinnert uns daran, dass es dieses normale, gute Leben gibt und dass wir vielleicht einfach nur warten und beten müssen, dass es irgendwann endet und wir nach Hause können", so Moroz.

Der Sport spendet den Frauen Trost, denn die meisten Verwandten sind immer noch in der Ukraine. Die Spielerinnen haben ihre Handys rund um die Uhr bei sich, doch durch Elektrizitätsausfälle kommt es oft vor, dass die Familien sich gegenseitig nicht erreichen können. "Das sind schlimme Stunden, man ist total gestresst, weil man nicht weiß, was dort gerade passiert", berichtet die zierliche Moroz mit ernstem Blick.

Bundestrainer Altenburg: "Haben großen Respekt"

Für ihr Team ist die EM mehr als nur ein sportliches Event. Wenn die Ukrainerinnen die Titelkämpfe heute mit der Partie gegen Tschechien (10.30 Uhr) eröffnen, spielen sie vor allem "für unsere Leute zuhause". Dass die Mannschaft von Trainerin Svetlana Ivanova das Turnier unter diesen Umständen auf sich nimmt, findet Tauffmann Meyer "großartig".

Auch Frauen-Bundestrainer Valentin Altenburg hält viel von den ukrainischen Gegnerinnen: "Die Ukraine ist traditionell eine Hallen-Nation. Sie sind immer stark und auch einer der Favoriten bei diesem Turnier. Wir haben da großen Respekt."

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Bei der EM regiert der Sport, nicht der Krieg

Am zweiten Gruppenspieltag treffen Deutschland und die Ukraine aufeinander. Sie kennen sich gut, beide haben viele Routiniers in ihren Reihen. Das letzte Aufeinandertreffen bei der EM 2020 in Belarus gewann Deutschland beim 4:3 nur knapp. Altenburg ist überzeugt, dass "die Mannschaft gekommen ist, um uns zu schlagen". Neben dem sportlichen Aspekt wünscht er den Gegnerinnen, "dass der Sport regiert, sobald das Spiel angepfiffen ist".

Yevheniia Moroz und ihre Mannschaft stehen in Hamburg vor der Herausforderung, alle aufgestauten Emotionen zu kanalisieren und im richtigen Moment auf den Platz zu bringen. Für den sportlichen Erfolg. Und das kurze Gefühl eines "normalen" Lebens.

Spielplan Damen:

Mittwoch, 7. Dezember 
UhrzeitBegegnung
10.30 UhrUkraine - Tschechien
11.45 UhrNiederlande - Österreich
13 UhrDeutschland - Türkei
17 UhrNiederlande - Tschechien
18.15 UhrTürkei - Ukraine
19.30 UhrDeutschland - Österreich
Donnerstag, 8. Dezember
UhrzeitBegegnung
13.15 UhrTürkei - Niederlande
14.30 UhrTschechien - Österreich
15.45 UhrUkraine - Deutschland 
Freitag, 9. Dezember
UhrzeitBegegnung
9.30 UhrÖsterreich - Ukraine
10.45 UhrTschechien - Türkei
12 UhrNiederlande - Deutschland
17 UhrÖsterreich - Türkei
18.15 UhrDeutschland - Tschechien
19.30 UhrUkraine - Niederlande
Sonnabend, 10. Dezember
UhrzeitBegegnung K.o.-Runde
12.45 Uhr, Spiel um Platz 55. Platz  - 6. Platz
14.10 Uhr, Spiel um Platz 33. Platz  - 4. Platz
15.35 Uhr, Finale1. Platz - 2. Platz

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | 06.12.2022 | 14:00 Uhr

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