Graugänse fressen auf einem Feld © picture alliance/dpa Foto: Julian Stratenschulte

Nach 30 Jahren keine Lösung: Weiter Frust über Gänsefraß

Stand: 13.05.2022 18:52 Uhr

Jedes Jahr landen 400.000 Wildgänse an der Westküste. Schon seit drei Jahrzehnten sind die Freßschäden der Gänse so groß, das Landwirte, Naturschützer und die Politik nach Lösungen suchen.

von Oliver Kring

Seit inzwischen 30 Jahren immer das Gleiche an der Westküste: die Wildgänse kommen. Und wenn sie dann Mitte Mai weiterfliegen - dann bleibt nach Angaben der Bauern "verbrannte Erde". In jedem Fall konstatieren die Bauern einen Grünland-Kahlschlag. "Auf den Feldern wächst dann nix mehr", stellt Bürgermeister Olaf Dircks aus Westerhever fest. "Seit drei Jahrzehnten. Und das hört und hört nicht auf." Der Ort auf Eiderstedt ist besonders betroffen. 400.000 Wildgänse kommen jedes Jahr an die Westküste und überwintern dort. Allein in Westerhever sind es bis zu 60.000. Doch die Tiere stehen unter Artenschutz. Auch der Umwelt- und Naturschutz muss nach Angaben eines Vertreters des Landes gehütet werden.

Kernprobleme wie Kahlschlag, Heuernte-Ausfälle werden schlimmer

Auch die Kern-Probleme haben sich seit 30 Jahren nach Ansicht der Bauern nur in eine Richtung verändert. Sie sind schlimmer geworden. Die Gänse fressen die Gräser an der energiereichsten Stelle des Grashalms an: etwas oberhalb der Grasnarbe. Das Gras ist dann so beschädigt, dass es nicht weiterwächst. Es bleibt kurz und verkümmert. Daraus können die Bauern kein Heu als Futter gewinnen. Für gewöhnlich können die Bauern zwei bis drei Mal im Frühjahr Gras mähen und es zu Heuballen verarbeiten - zum Beispiel als Winterfutter für ihre Tiere.

Kühe wollen nicht auf Flächen, die von Gänsekot übersät sind

Die Gänse hinterlassen dicht an dicht Tonnen von Kot auf den Feldern der Bauern. Dadurch schränken sich die Möglichkeiten der Landwirtschaft weiter ein. Rinder oder Schafe verlassen zu großen Teilen im April oder Mai die Ställe und kommen raus auf die Weiden. Dann grasen sie auf den Feldern. Doch wenn die Gänse vorher auf die Flächen gehen, hinterlassen sie so viel Kot, dass die Kühe dort nicht mehr grasen können. Die Folge: Die Tiere bleiben in den Ställen oder müssen auf andere Flächen. Häufig reichen diese nicht aus - die Bauern müssen Futter hinzukaufen.

Nicht sicher geklärt sind Folgen durch Viren, Milben und Räude

Es bilden sich nach ihren Worten Viren, Milben und Räude - inwieweit diese im Boden oder auf den Flächen bleiben, ist nicht überall geklärt. Aber nach Aussagen von Bauern wächst die Gefahr von Infektionen insbesondere bei Schafen. Das kann teure Tierarztbehandlungen auslösen.

Verluste von bis zu 1.000 Euro pro Hektar

Diese Haupt- und Nebeneffekte erschweren eine auskömmliche Landwirtschaft. Teilweise entstehen nach Darstellung der Bauern kosten von 1.000 Euro an Ausfall, Verlust und zusätzlichen Kosten - wenn die Grünlandwirtschaft (Grasanbau auf den Feldern) etwa mit Milchwirtschaft gekoppelt ist. Wenn Kühe statt auf den Weiden im Stall stehen, geben sie teilweise weniger Milch oder es kann zwar Standard-Milch von Kühen erzeugt werden, für Weidemilch mit einem besseren Preis pro Kilogramm müssen die Kühe jedoch eine bestimmte Anzahl an Tagen auf der Weide grasen.

Bauern bleiben am Ball

Nach 30 Jahren wäre manch ein anderer mürbe geworden. Sie aber wollen beharrlich bleiben: die letzten acht Bauern im Dorf mit Bürgermeister Olaf Dircks. Betrieb Nummer neun - die traditionsreiche Schäferei von Westerhever - hat im vergangenen Jahr dichtgemacht. Wegen des Gänsefraßes ist der Bürgermeister überzeugt: Sonst hätte ja jemand den Betrieb übernommen und weitergeführt, sagt er.

Dircks hat wieder einmal zum "Gänsefraß-Gipfel" eingeladen. Damit sind alle Interessenvertreter gemeint - Vertreter des Landes, der Behörden, Verbände, Kommunen und der Bauern. Olaf Dircks zeigt den Gästen - wie immer - die Fraß-Schäden. Seit einiger Zeit führt einer der Landwirte, Kai Dircks, neuartige Versuche durch. Er hat einige Hektar Land der betroffenen Flächen gepachtet und ausprobiert, ob er doch etwas anbauen kann, wenn die Gänse weg sind. Ergebnis: negativ. Er wird die Pachtverträge nicht noch mal verlängern.

Gutachten der Landwirtschaftskammer bescheinigt Fraßschäden

Ein gerade veröffentlichtes Gutachten der Landwirtschaftskammer zeigt, dass die Fraß-Schäden pro Hektar bei extensiver Landwirtschaft (es wird nur Heu aus frei wachsendem Gras produziert) 300 Euro betragen.  Doch die Landwirte wollen gar kein Geld. Sie wollen einfach nur wirtschaften wie vor der Gänsefraß-Krise. Deshalb fordern sie gemeinsam mit Bürgermeister Dircks, dass die unter europäischem Artenschutz stehenden Gänse zur Jagd freigegeben werden. Sie wollen nicht alle Tiere töten, sondern sie durch die Jagd auf andere Flächen lenken. Rehe dürften auch geschossen werden, wenn sie im Wald zu viel Schaden anrichten, so ihr Argument.

Eiderstedt ist Vogel- und Naturschutzgebiet

Naturschützer hingegen befürchten ein Gänsegemetzel. Michael Kruse vom Umweltministerium sagt: "Kein Minister wird die Jagdzeit antasten." Stattdessen will das Land Bauern beim Ackerbau unterstützen - und dies mit 430 Euro pro Hektar fördern. Sie könnten bereits ab dem 1. April und nicht erst ab Mai, wenn die Gänse weggezogen sind, beginnen. Bedingung: Sie müssen auch Wintergras für die Gänse anbauen. Kritiker sagen dazu: Schäfer oder Milchbauern würden in etwas getrieben, was sie gar nicht wollen. Und würden zudem rund die Hälfte weniger verdienen.  

Am Problem ändert sich nach den Aussagen Kruses vom Nationalparkamt allerdings auch in den kommenden Jahren nichts: Die Bestände sind mit 1,2 bis 1,4 Millionen Gänsen drei Mal größer als für die Arterhaltung nötig. Eines habe sich in den vergangenen 30 Jahren allerdings doch verändert, so Kruse: Es kämen nun mehr Tiere nach Westerhever sowie an die übrige Westküste. Und sie bleiben demnach auch länger als früher. Anstelle von Dezember bis April sind die Gänse inzwischen von November bis Mai an der Westküste.

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Nachrichten für Schleswig-Holstein | 13.05.2022 | 19:30 Uhr

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