Vier-Tage-Woche: Eine Malermeisterin geht neue Wege

Stand: 15.11.2022 05:00 Uhr

"Jede Woche langes Wochenende", lautet das Motto von Jessica Hansens Malereibetrieb in Osterby. Mit einer Vier-Tage-Woche und flachen Hierarchien wirbt die Chefin um neue Mitarbeiter - mit Erfolg.

von Sophia Stritzel

6:15 Uhr in Osterby (Kreis Rendsburg-Eckernförde): Es ist eng und trubelig in der Malerwerkstatt von Jessica Hansen. Neonlicht erhellt gestapelte Farbeimer und abgestellte Kaffeetassen. Draußen ist es noch dunkel. Mitarbeitende in schwarz-weißer Arbeitskleidung verstauen Klapptische und Eimer in Autos. "Michael, du fährst mit Marcus" - Jessica Hansen hat den Überblick - ruhig aber bestimmt macht die 40-Jährige im grauen Kapuzenpullover die Ansagen.

Noch vor wenigen Monaten war hier kaum etwas los. Wie viele Handwerksbetriebe in Schleswig-Holstein litt auch ihrer unter dem Fachkräftemangel. Doch diese Zeiten sind vorbei - denn seit einigen Monaten macht die Malermeisterin alles anders. "Wir haben die Vier-Tage-Woche, die Mitarbeiter können entscheiden, wann sie anfangen zu arbeiten und ich bezahle die Fahrzeiten." Außerdem gibt es Fortbildungsangebote und die Chefin setzt auf flache Hierarchien: "Hier ist jeder für jeden da und wir lernen alle voneinander."

Das Konzept kommt gut an

Bei den Mitarbeitenden kommt das gut an. Diana Ahmling belädt eines der Autos. Die 29-Jährige ist erst seit wenigen Wochen Teil des Teams. Für die Arbeitsathmosphäre nimmt sie sogar eine Pendelstrecke von gut 45 Minuten pro Weg in Kauf. "Man kennt es nicht, dass man so viel Mitspracherecht hat und das man so viel geboten bekommt. Jeder hat gedacht, da gibt es einen Haken." Den hat sie bisher nicht gefunden. Und auch ihr Kollege Marcus Hess nicht. Er arbeitet seit fast 40 Jahren als Maler. Bevor er nach Osterby kam, hatte er teilweise Sechs-Tage-Wochen.

"Druck, Druck, Druck, nur Druck", so beschreibt er diese Zeit. Ein Zimmer, das früher in drei Tagen gestrichen wurde, soll nun innerhalb eines Tages fertig sein. "Das funktioniert nicht. Nach zwei, drei Monaten hängt man schon in den Seilen." Der 54-Jährige hofft, das nicht mehr erleben zu müssen. Er will bis zur Rente in Osterby bleiben.

Die Türen knallen, die drei Busse fahren los zu verschiedenen Baustellen. Jessica Hansen geht ins Büro, sie muss noch Angebote schreiben. Beinahe täglich rufen Handwerker an, die bei ihr arbeiten wollen. Mittlerweile hat sie sogar eine Warteliste - 30 Interessenten stehen darauf. Denn Jessica Hansen wirbt weiter für ihr Unternehmen - in den sozialen Netzwerken. "Jede Woche langes Wochenende" steht da zum Beispiel, in großen, dunkelgrünen Buchstaben. Wer für Hansen arbeitet, kann sich aussuchen, wie viele Tage er oder sie arbeitet - bezahlt werden die geleistete Stunden inklusive Anfahrt zur Baustelle. Laut Hansen ist das nicht der Standard in ihrer Branche.

Eine Veränderung aus der Not heraus

Ihre Mitarbeitenden sind losgefahren. Nun steigt auch Jessica Hansen ins Auto. Sie muss zu einer Baustelle ganz in der Nähe: ein Schulneubau. Die Autofahrt gibt ihr Zeit, um zurückzublicken. Langsam wird es hell. 20 Mitarbeitende hat Jessica Hansen heute. Im Frühjahr dieses Jahres waren es gerade einmal sechs. Die neue Firmenstruktur ist aus der Not heraus geboren, erzählt sie, während sie ihr Auto über enge Landstraßen steuert. Anfang des Jahres wusste sie nicht, wie es weitergehen sollte, sie hatte einfach zu wenige Mitarbeitende. Die Folge: Im März habe sie Kunden erst für Dezember oder Januar einen Termin anbieten können.

"Dann haben die natürlich nicht mehr angerufen und da hatte ich Angst, dass ich die Kundschaft komplett verlieren könnte." Sie habe sich dann mit Personalmanagement auseinandergesetzt und gefragt: "Was würde mir gefallen, wenn ich irgendwo anfangen würde zu arbeiten?" Bei den Kunden sei die Umstrukturierung gut angekommen. Denn nun kann Jessica Hansen wieder zeitnah Aufträge annehmen - und ob vier oder fünf Tage in der Woche gearbeitet werde, sei den meisten Privatkunden egal. Bei Großbaustellen teilt sie ihre Mitarbeitenden so auf, dass die ganze Woche über jemand da ist.

Betriebe müssen sich mehr trauen

Ihr Beruf habe ein Imageproblem, sagt Jessica Hansen, während sie durch die hohen Räume des Schulneubaus geht und mit ihren Mitarbeitenden über die Lackierung der Türrahmen spricht. "Lasst sie bloß keine Malerin werden", habe schon ihre Mutter damals gesagt.

Nicht nur die Politik sei gefragt, sagt Hansen. Lösungen zu finden, sei auch Aufgabe der Handwerksbetriebe. Hier brauche es mehr Mut zur Veränderung, denn dass Motto: "früher ging es ja auch", funktioniere nicht mehr. "Wir müssen was tun - ganz dringend - wir werden sonst keine Fachkräfte mehr haben und keiner hat mehr Lust, irgendwelche Handwerksberufe zu lernen."

Jessica Hansen teilt ihr Wissen über ihre Umstrukturierung auch mit anderen Betrieben. Sie will in Zukunft weiter wachsen: Wenn es die Auftragslage zulässt, bald noch weitere Mitarbeitende einstellen. Denn die Warteliste mit Malerinnen und Malern, die bei ihr arbeiten wollen, ist lang.

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Schleswig-Holstein Magazin | 13.11.2022 | 19:30 Uhr

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