Stefan Seidler sitzt als "SSW-Einzelkämpfer" im Bundestag

Stand: 26.11.2022 05:00 Uhr

Seit September 2021 sitzt Stefan Seidler für den Südschleswigschen Wählerverband (SSW) im Bundestag - als erster Abgeordneter für diese Partei seit 70 Jahren. Er darf als Fraktionsloser keine Anträge einbringen, keine Anfragen stellen und nur in einem einzigen Ausschuss tätig sein.

von Simone Mischke

"Moin, liebe Kolleginnen und Kollegen" - Stefan Seidler spricht im Bundestag nicht nur Hochdeutsch. Er wolle, so sagt er, mit Kleinigkeiten Akzente setzen: mit der norddeutschen Begrüßung oder dadurch, dass er auch mal einen Satz auf Platt oder Dänisch einstreut. Der Bundestagsabgeordnete des SSW ist 42 Jahre alt, verheiratet, hat zwei Töchter - und er ist wohnungslos in der Hauptstadt. Doch dazu später mehr.

Reden vorbereiten, netzwerken, frühstücken

Nach beinahe 70 Jahren Pause hat der Südschleswigsche Wählerverband mit Seidler wieder eine Stimme im Bundestag. Seine Schritte hallen nach auf dem blankgeputzten Holzboden im Jakob-Kaiser-Haus, wo er sein Büro hat. Der Mann mit den blauen Augen und dem schütteren, hellblonden Haar bewegt sich schnell. Die Wege im Bundestag sind lang, genauso wie seine To-Do-Liste. Er hat es eigentlich immer eilig. In dieser Woche geht es um den Kanzleretat. Die Generaldebatte findet mittwochs statt und ist der Höhepunkt der Haushaltswoche im Bundestag. Auch Seidler tritt dann an das Rednerpult, insgesamt viermal in dieser Woche. Nicht nur die Reden muss er noch vorbereiten: Auf seiner Tagesordnung stehen: Netzwerken auf einer Veranstaltung der Biosphären-Reservate, Telefonate, Terminabsprachen, am Abend noch eine Veranstaltung bei der Hamburger Landesvertretung. Aber erst mal: Kaffee - und ein Stück dänisches Gebäck. "Ich frühstücke meistens hier im Büro", sagt Seidler. Dort hat er drei feste Mitarbeitende und derzeit auch eine Praktikantin, die, wie Seidler, der dänischen Minderheit angehört. Ein kurzer Schnack auf dänisch, dann zieht er sich für ein schnelles Frühstück in sein Büro zurück.

Übernachten im Büro? Kommt vor

Stefan Seidler vom SSW sitzt in seinem Büro und schaut in die Kamera. © NDR
Stefan Seidler schläft hin und wieder auch auf dem Sofa seines Büros.

Betritt man Seidlers Büro, bleibt der Blick erstmal unterhalb seines Namensschilds hängen. Dort baumelt ein sogenannter Nisse: ein dänischer Weihnachtswichtel. Etwas Heimatkolorit im fernen Berlin. Der SSW-Abgeordnete ist deutscher und dänischer Staatsbürger, fühlt sich im Bundestag als Däne. In Berlin hat er ein geräumiges Büro bezogen. Mit einem großen Schreibtisch, auf dem ein Foto seiner Frau und seiner zwei Töchter steht. Die beiden hält er raus aus der Öffentlichkeit, raus aus den sozialen Netzen, das haben sie so vereinbart. "Unsere Töchter sollen selbst entscheiden, wo sie stattfinden", so Seidler.

Auf dem Fernseher in seinem Büro verfolgt Seidler die Debatten im Plenarsaal. Im Wandschrank versteckt sich eine Waschgelegenheit. "Wenn wir bis in die Nacht tagen, kommt es schon mal vor, dass ich danach hier auf dem Sofa schlafe. Da bin ich auch nicht der Einzige", sagt er etwas lakonisch. Auf der schwarzen Ledercouch liegt eine bunte Häkeldecke. "Die habe ich auf dem Weihnachtsmarkt gekauft. Früher hatte ich so eine von meiner Oma. Die Decke erinnert mich an sie", erzählt Seidler lächelnd. Die Häkeldecke auf dem Sofa ist mehr als nur als ein nostalgisches Accessoire. "Wir müssen Energie sparen, die Decke wärmt", schmunzelt er.

Ja zur Politiker-WG - Nein zur Koalition

In der eigenen Wohnung übernachten könnte Seidler auch gar nicht, selbst, wenn er wollte: Er hat keine. "Ich war gerade bei einer Besichtigung, 20 Minuten zu früh. Da standen schon 60 Leute vor mir auf dem Bürgersteig. 500 hatten sich beworben und der Vermieter sagte, er nimmt nur die ersten 50. Ganz ehrlich? Dafür habe ich keine Zeit. Als Einzelkämpfer muss ich meine Kräfte bündeln", sagt er. So zieht der Abgeordnete während der Sitzungswochen in Berlin von Hotel zu Hotel. Das koste auch nicht mehr als eine Wohnung, sagt er. "Ich stehe morgens um 7 Uhr auf und komme weit nach Mitternacht erst wieder zurück. Da brauche ich nur ein Bett."

Einige andere Abgeordnete haben inzwischen WGs gegründet. Kommt das auch für Seidler infrage? Vielleicht mit der SPD oder den Grünen, mit denen er auch im Plenarsaal sitzt? "Ich glaube, die würden mich sogar gerne aufnehmen. Bei mir müssten sie auch keine Sorgen haben, dass ich sie nachts - politisch - um die Ecke bringe." Seidler lacht und betont, er sei bereit für eine Politiker-WG. Für eine Koalition mit SPD oder Grünen sei er indes nicht zu haben. Obwohl es von beiden Parteien Annäherungsversuche gab. Seidler sagt, er wolle unabhängig bleiben.

Einzelkämpfer, aber nicht allein

Doch um in Berlin etwas erreichen zu können, muss der Abgeordnete aus Schleswig-Holstein gute Kontakte zu den anderen demokratischen Parteien pflegen. Denn der Mann aus der dänischen Minderheit ist hier in der absoluten Minderheit: Er darf als Fraktionsloser keine Anträge einbringen, keine Anfragen stellen, nur in einem einzigen Ausschuss tätig sein. Seidler hat sich für den Innenausschuss entschieden. Geht es beispielsweise um den Haushalt, muss er mit anderen Parteien koalieren. "Meine Währung ist der gute Wille. Ich habe zu den Kolleginnen und Kollegen anderer Parteien ein vertrauensvolles Verhältnis. So habe ich in den Haushaltsverhandlungen größtenteils das durchbekommen, was ich mir gewünscht habe", verrät er. Dazu gehörten zum Beispiel jeweils 50.000 Euro mehr Geld für Projekte der Dänen und Friesen, 580.000 Euro für die Renovierung der Flensburger St. Nikolaikirche und 3,8 Millionen Euro für den Neubau des Kulturhauses auf der Freiheit in Schleswig. Für den Bundeshaushalt seien das insgesamt kleine Mittel, so Seidler. "Aber für uns in Schleswig-Holstein und für die Minderheiten, für die Region, für die ich kämpfe, ist das eine große Sache."

So allein, wie er vielleicht auf seinem blauen Stuhl im Plenarsaal wirkt, etwas versteckt unter einer der Zuschauertribünen und ganz am Rand, ist er also nicht im Berliner Politikbetrieb. Seine Abgeordneten-Kollegen schätzen ihn. "Wir arbeiten gut mit ihm zusammen, auch wenn wir nicht in allem derselben Auffassung sind. Er hat gute Themen gesetzt, eine Bereicherung für das Parlament", findet zum Beispiel der Grünen-Abgeordnete Jan-Niclas Gesenhues. Als hochgeschätzt, sympathisch und engagiert bezeichnet ihn Sebastian Roloff von der SPD.

"Ich habe immer noch Lampenfieber“

Und dann sind da natürlich noch die Reden im Plenum. Als Fraktionsloser hat Seidler weniger Redezeit als die anderen Abgeordneten. Nicht lange schnacken, sondern auf den Punkt kommen, und nur zu den Themen reden, die ihm wichtig sind - das ist sein Motto. Am Rednerpult zu stehen ist für den Schleswig-Holsteiner etwas Besonderes, erst recht bei der Generaldebatte. Da spricht er dann über den Schutz der Minderheiten, über norddeutsche Tugenden, über die Klimakrise oder den Sanierungsstau bei den Wasserstraßen. "Dor weet ik ne so richtig, op dat löppt" ist sein Kommentar dazu. Für Seidler persönlich läuft es indes ganz gut. Während und nach seiner Rede gibt es Applaus und positive Zurufe, etwa von der Grünen-Abgeordneten Luise Amtsberg. Und die negativen Reaktionen? "Die sitzen immer Rechtsaußen, die sind mir egal."

"Den Finger in die Wunde legen, wenn der Norden zu kurz kommt“

Es gibt auch Grenzen für den Einzelkämpfer. "Wir loten schon strategisch aus, welche Ziele wir realistisch erreichen können. Ein Tunnel unter dem Nord-Ostsee-Kanal wäre ja die Wunschvorstellung des SSW, aber wohl kaum realistisch. Da setze ich mich dann eher für die Sanierung der Rader Hochbrücke ein", sagt er. Seidler wägt auch Lob und Kritik an der Bundesregierung sorgfältig ab.

Sein Fazit nach gut einem Jahr Arbeit im Bundestag fällt positiv aus, auch, was den Kulturhaushalt angeht. Aber: "Wir müssen hier weiter die Flaggen unserer Minderheiten und unserer Region hochhalten. Den Finger in die Wunde legen, wenn der Norden mal wieder zu kurz kommt. Sonst fällt hier wieder einiges hinten runter", sagt Seidler.

Weitere Informationen
Lars Harms, Vorsitzender des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW) im Landtag von Schleswig-Holstein, steht am Rednerpult. © NDR Foto: Sophia Stritzel

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 27.11.2022 | 19:30 Uhr

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