Eine Lehrerin gibt einen Mobbingworkshop in einer Grundschulklasse. © NDR Foto: Astrid Wulf

Mobbing in der Schule: "Alles hinterlässt Spuren im Herzen"

Stand: 24.07.2022 11:30 Uhr

Katharina Schalinski wurde bereits in der zweiten Klasse von Mitschülern beleidigt, bespuckt und mit Steinen beworfen, bis ihre Nase brach. Andere Kinder will sie vor solchen Erfahrungen schützen.

von Astrid Wulf

Kein Unterricht, stattdessen steht in der Grundschule Alt Duvenstedt (Kreis Rendsburg-Eckernförde) ein Anti-Mobbing-Workshop auf dem Stundenplan. Die Kinder sitzen im Stuhlkreis, Coach Katharina Schalinski mittendrin. Die Kinder halten Papierherzen in der Hand, die sie zuvor ausgeschnitten hatten. Reihum sagen sie Sätze auf, die sich ihnen schmerzlich eingebrannt haben. "Mir wurde gesagt, dass ich doof bin", sagt ein Mädchen trotzig. Ein Junge fügt leise hinzu: "Mir wurde gesagt, dass ich nicht ins Tor darf, weil ich zu schlecht bin". Nach jedem Satz knicken die Kinder ihr Papierherz um. Nach der Runde entfalten die Kinder sie wieder. "Was fällt euch bei eurem Herzen auf?" fragt Katharina Schalinski. Ein Mädchen antwortet: "Meines hat einen Riss." "Genau. Alles, was gesagt wurde, hinterlässt Spuren im Herzen."

Hilflose Tipps: "Ignoriere sie einfach"

Katharina Schalinskis Erlebnisse haben auch sie geprägt. Im Workshop erzählt sie den Kindern davon: "Ich bin auf dem Weg nach Hause vom Fahrrad geschubst worden, man hat gesagt, dass ich hässlich bin. Ich hatte zum Schluss gar keinen Spaß mehr am Leben." Gerade Lehrerinnen und Lehrer hätten damals sehr hilflos reagiert, die Attacken als "Jungsstreiche" kleingeredet und ihr geraten, die Angreifer einfach zu ignorieren.

Coach Schalinski: Eltern fällt es häufig schwer, Mobbing zu erkennen

Eine Lehrerin gibt einen Mobbingworkshop in einer Grundschulklasse. © NDR Foto: Astrid Wulf
Anti-Mobbing-Coach Katharina Schalinski empfiehlt Eltern, bei Auffälligkeiten einfühlsam nachzufragen.

Heute würden Lehrkräfte sensibler mit dem Thema Mobbing umgehen, sagt Katharina Schalinski. Eltern hingegen seien häufig nach wie vor überfordert, bekommen es womöglich gar nicht mit, wenn das eigene Kind Opfer von Mobbing wird. Dabei ist der 2017 veröffentlichten PISA-Studie der OECD zufolge jeder sechste Schüler und jede sechste Schülerin im Alter von 15 Jahren betroffen. Es könnten Warnsignale sein, wenn Kinder sich zurückziehen, sich nicht mehr mit Freunden treffen oder in die Schule gehen wollen oder wenn die Noten absacken.

Betroffene Kinder schweigen aus Scham

Katharina Schalinski empfiehlt Eltern, im Zweifel nachzufragen - einfühlsam, aber beharrlich. Ob das Kind erzählen mag, was los ist - ob beispielsweise etwas Gemeines in einer Chatgruppe geschrieben wurde. Viele Kinder bräuchten Zeit, bis sie sich öffneten. "Vielen ist es den Eltern gegenüber superpeinlich, zuzugeben, dass sie gemobbt werden."

Mobbingexperte: Jeder kann Opfer werden

Mobbing sei immer ein Gruppenphänomen, sagt Philipp Behar-Kremer vom Berliner Verein "Cybermobbing Prävention". Zu Beginn stehe immer eine Gruppe, die jemanden aus der Gruppe herausdrängen will, so der Sozialpädagoge. Alles kann gegen die Opfer verwendet werden: Ein Sprachfehler, ein außergewöhnliches Hobby, eine Brille bis hin zur vermeintlich falschen Turnschuhmarke. In der Regel werde nach und nach die ganze Klasse in diese Dynamik hineingezogen, das Opfer hingegen zieht sich immer weiter zurück, reagiert verängstigt oder auch aggressiv. "Das kann irgendwann nur noch von außen gestoppt werden", sagt Philipp Behar-Kremer.

Kreislauf durchbrechen, statt Mobbende zu bestrafen

Eine besonders wirkungsvolle Methode sei der "No Blame Approach". Hier ginge es nicht darum, die Mobbenden zu bestrafen. Stattdessen soll das Mobbingopfer in die Gemeinschaft - zum Beispiel in die Klasse - wieder integriert werden. Dafür wird eine kleine Arbeitsgruppe innerhalb der Klasse gebildet, in die auch die Mobbenden involviert werden. "Sie fragen zunächst, was sie in der Gruppe sollen", sagt Philipp Behar-Kremer. "Wir betonen dann die Stärken der Kinder, sagen ihnen zum Beispiel: Du hast in der Klasse etwas zu sagen, kannst die anderen mitreißen." Dann erarbeitet die Gruppe gemeinsam einen Hilfsplan für den gemobbten Schüler oder die Schülerin. Es werden Ideen gesammelt, wie der oder die Ausgestoßene wieder in die Klasse integriert werden kann, mit gemeinsamen Cafeteria-Besuchen zum Beispiel. Der Effekt: Das Mobbingopfer wird nicht mehr vor der Klasse vorgeführt.

Was hilft: Aufklärung, Zivilcourage, Medienkompetenz, ein starker Klassenverband

In ihren Workshops will Katharina Schalinski den Kindern klarmachen, dass alle in der Klassengemeinschaft ihren Platz haben und dass es wichtig ist, die anderen auch mit all ihren Eigenheiten und Spleens zu akzeptieren. Dazu spricht sie darüber, was Mobbing auslösen kann. Dass manche Opfer keinen Ausweg mehr sehen und versuchen, sich das Leben zu nehmen, würde viele schockieren und wachrütteln. Allerdings sei auch das Verständnis für die jungen Täterinnen und Täter wichtig. Viele Mobbende triezen andere, weil es ihnen selbst an Selbstbewusstsein fehlt, sagt sie. Philipp Behar-Kremer sieht vor allem Eltern in der Verantwortung, Werte wie Konfliktfähigkeit, Zivilcourage, Medienkompetenz und Empathie vorzuleben. So ist es dann womöglich das eigene Kind, das die Stimme erhebt, wenn ein Mitschüler oder eine Mitschülerin gemobbt wird - oder Hilfe holt, wenn es selbst betroffen ist.

Hier gibt es Hilfe

Mobbingopfer, die über ihre Probleme anonym sprechen möchten, können die Telefonseelsorge Tag und Nacht kostenlos unter  0800 - 111 01 11 erreichen. Bei schweren Krisen und Suizidgedanken helfen psychiatrische Notfallambulanz, auch unter dem Notruf 112 gibt es Hilfe.

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Nachrichten für Schleswig-Holstein | 22.07.2022 | 08:00 Uhr

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