Kiel in der Nazizeit: Straßenkämpfe und Angst auf dem Schulweg

Stand: 30.01.2023 12:31 Uhr

Im Jahr 1933 ging alles sehr schnell: Am 30. Januar wird Hitler zum Reichskanzler ernannt - im Sommer ist Deutschland eine Diktatur. Wie war diese Zeit? Eine damals zehnjährige Holtenauerin erinnert sich.

von Julia Schumacher

Ingelene Rodewald ist 100 Jahre und zehn Monate alt. Fragt man sie nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933, sagt sie: "Da muss man weiter vorne anfangen." Sie fängt 1928 an, als die damals Sechsjährige die kalte Hand eines alten Mannes schüttelte. Es war die Hand von Paul von Hindenburg.

"Ich bin 1922 in Holtenau geboren, mein Elternhaus lag am Ende des Hochbrückendamms und mein Vater war die wichtigste Person in meinem Leben", sagt die Einhundertjährige. Ihr Vater, Magnus Ivens, war Architekt und hatte eine Baufirma. Diese Firma war im Jahr 1928 an den Bauarbeiten für die Holtenauer Hochbrücke beteiligt. So kam es, dass Magnus Ivens seine Tochter Ingelene eines Tages 1928 zur Hochbrücke mitnahm: "Oben, wo die Hochbrücke aufhört und die Straße anfängt, war eine große Versammlung. Und da hat er mir einen Blumenstrauß in die Hand gegeben und gesagt: Hindenburg kommt heute."

"Wie ein lebendes Denkmal"

Sie erinnert sich an eine schwarze Limousine, aus der Reichspräsident Hindenburg ausstieg: "Da bin ich also rübergegangen und Hindenburg kam auf mich zu. Das war ein alter Mann mit Stiefeln bis über die Knie - und er ging staksig auf mich zu." Ingelene Rodewald gab ihm den Strauß, Hindenburg gab ihr die Hand, schüttelte sie, tätschelte sie und bedankte sich. "Ich lief schnell wieder zu meinem Vater und sagte: Der hat aber kalte Hände." Auf die damals Sechsjährige hat Hindenburg den Eindruck einer Statue gemacht: "Wie ein lebendes Denkmal, das man hin- und herschiebt, aber keinen eigenen Willen hat."

Eine gewaltige Zäsur am 30. Januar 1933

Fünf Jahre später, am 30. Januar 1933, ernennt Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. "Der 30. Januar 1933 ist eine gewaltige Zäsur, weil im Endeffekt Antidemokraten die Macht übertragen wird", sagt Martin Rackwitz, Historiker für Kieler Stadtgeschichte. Geprägt hat die gesellschaftliche Stimmung auch die schwierige Zeit davor.

"In den Jahren vor dem 30. Januar 1933 war die wirtschaftliche Lage in Schleswig-Holstein ausgesprochen schlecht. Den Bauern auf dem Land ging es schlecht. Aber auch in den großen Industriestädten wie Kiel war die Wirtschaft am Boden." Auch die Werften hatten wegen mangelnder Aufträge tausende Arbeiter entlassen müssen. "Und so hatte man natürlich eine gewisse Erwartungshaltung an die Nationalsozialisten", so Rackwitz. Denn diese hatten propagiert, Deutschland zu alter Größe und Stärke zu führen und den Versailler Vertrag rückgängig zu machen.

Plötzlich Totenstille auf dem Bauplatz vor dem Haus

Die Weltwirtschaftskrise der Jahre vor 1933 traf auch das Bauunternehmen von Ingelene Rodewalds Vater: "Meinem Vater ging es eigentlich in den ersten 1920er-Jahren gut. Er hatte viele Bauaufträge, wir hatten einen großen Zimmerplatz und viele, viele Leute. Und da ging es abwärts." Um 1929 fing es an, erinnert sich Ingelene Rodewald: "Da muss irgendetwas passiert sein, ein Weltwirtschaftscrash und von da an war Totenstille." Sie hätte die Zeit als furchtbar empfunden. Wir hatten immer Leute auf dem Platz und hatten eine Werkstatt, und plötzlich hörten die Maschinen auf. Es war kein Mensch mehr da."

Ihr Vater konnte seine Schulden nicht mehr bezahlen und ging Konkurs, erinnert sie sich: "Als kleines Mädchen trifft einen das furchtbar. Ich habe unter diesen Jahren unglaublich gelitten. Weil ich es gewohnt war, wenn ich auf den Bauplatz vor unser Haus ging, da war immer jemand mit dem ich spielen konnte." Plötzlich sei da aber gar nichts mehr gewesen. Auch die Atmosphäre zu Hause sei still geworden, berichtet Ingelene Rodewald.

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Anlässlich der Berufung Hitlers zum Reichskanzler zieht am 30. Januar 1933 ein Fackelzug der "nationalen Verbände" SA, SS und Stahlhelm durch das Brandenburger Tor. © picture alliance / akg-images Foto: akg-images / Alfred Hennig

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Kämpfe und Gewalt auf den Straßen - auch in Holtenau

Neben der schwierigen wirtschaftlichen Lage prägt noch etwas anderes das alltägliche Leben der Menschen. Verfeindende politische Lager, die sich auf den Straßen Kämpfe liefern, eine Allgegenwart von Gewalt. "Die Überfälle, die schon lange vor dem 30. Januar 1933 seitens der Nationalsozialisten auf politische Gegner begonnen hatten, ließen natürlich nichts Gutes erahnen", sagt Historiker Rackwitz. "Das war Sozialdemokraten und Kommunisten ja vollkommen bewusst, dass die Nationalsozialisten, sobald sie an die Macht kommen, äußerst brutal gegen ihre politischen Gegner vorgehen und diese ausschalten würden."

Was sich genau politisch zugetragen hat, war für die zehnjährige Ingelene Rodewald nicht direkt klar, sagt sie heute: "Das habe ich nicht so schnell begriffen." Was sie aber begriffen hat: "Es war eine unruhige Zeit." Wenn sie von ihrem Elternhaus zur Schule ging, musste sie die Richthofenstraße in Holtenau entlang: "Und da waren schon merkwürdige Kämpfe zwischen Kommunisten und den Nationalsozialisten. Und das spielte sich immer auf dem Weg ab. Dieser Konflikt, der sich immer weiter ausbreitete, war schon spürbar. Ich hatte ein bisschen Angst, als kleines Mädchen morgens zur Schule zu gehen, während die sich gegenseitig schon bekämpften."

Ein Blick in die Zeitungen von 1933

Die abfotografierte titelseite der Kieler Zeitung vom 31. Januar 1933. Der Aufmacher trägt den Titel: "Hitler packt zu" © Stadtarchiv Kiel
Die Kieler Zeitung vom 31. Januar 1933

In den Zeitungen von damals findet man rund um den 30. Januar 1933 all das wieder. Die Kieler Zeitung, die sich ab 1930 von einem liberalen zu einem nationalsozialistischen Blatt wandelte - titelt am 31. Januar 1933: "Hitler packt zu". Zwei Tage später ein Bericht über Kiels Bekenntnis für das Kabinett Hitler und einen Festumzug. Dazwischen: Grippewelle, Wetter, Konzerte. "In Schleswig-Holstein gab es schon relativ früh eine Affinität für den Nationalsozialismus", sagt Historiker Rackwitz. "Schon bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 hat die NSDAP in Schleswig-Holstein mit 51 Prozent gut 14 Prozent stärker abgeschnitten als im Reichsdurchschnitt mit 37 Prozent."

Ein abfotografierter Zeitungsartikel der Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung. Die Überschrifft lautet: "Naziterror lebt wieder auf" © Stadtarchiv Kiel
Die Schleswig-Holsteinische Volkszeitung vom 1. Februar 1933

Auf der anderen Seite: die sozialdemokratisch orientierte Schleswig-Holsteinische Volkszeitung. Sie berichtet bereits vom Tag nach der Machterübernahme: "Naziterror lebt wieder auf: SS-Leute trampeln SAJ-Genossen nieder, schlagen Mädel ins Gesicht". "Sofort, ab dem 30. Januar, gehen die Nationalsozialisten brutal gegen ihre politischen Gegner vor", sagt Historiker Rackwitz. "Und am selben Tag, als Hitler von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wurde, hat Hitler den Reichspräsidenten gebeten, den Reichstag wieder aufzulösen." Hindenburg ist dem nachgekommen und es begann direkt ein neuer Wahlkampf. "In diesem Wahlkampf haben die Nationalsozialisten sofort die staatlichen Organisationen genutzt, ihre politischen Gegner einzuschüchtern, zu verdrängen, zu behindern, wo sie nur konnten."

"Für mich als kleines Mädchen war klar: Mit Hitler stimmt etwas nicht"

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Neu gewählt wurde dann am 5. März 1933 - ein Ereignis, an das sich Ingelende Rodewald gut erinnern kann. Denn an diesem Sonntag gab es das sonst so streng pünktliche Mittagessen im Hause Ivens nicht wie gewohnt um zwölf Uhr, sondern um eins: die Eltern waren wählen. "Wir warteten alle. Wir Kinder saßen um den großen Esstisch, dann kamen die Eltern von der Wahl zurück." Rodewalds Mutter Emmy Ivens - 14 Jahre jünger als ihr Vater - erklärte, wie sie abgestimmt hat: "Sie wippte so ein bisschen hin und her und sagte: 'Wenn es morgen in Holtenau heißt: Wir haben alle die Nazis gewählt, dann stehe ich auf und sage: Ich habe die Nazis nicht gewählt.'"

Das hätte sie ihrem bereits verstorbenen Vater, Ingelenes Großvater, nicht antun können, so die Begründung der Mutter. Er hatte einst eine Buchdruckerei und Zeitung in Eckernförde. "Meine Mutter sagte: er würde auch heute den Mund nicht halten und die Nazis würden ihn abholen und einsperren." Dass ihre Eltern sich so verhielten, hinterließ bei Ingelende Rodewald einen Eindruck, der sie geprägt hat: "Damit war für mich als kleines Mädchen klar: Mit Hitler stimmt etwas nicht. Wenn meine Mutter sagt: Ich kann den nicht wählen und mein Vater sagt: Krieg ist für mich unmöglich. Das war für mich ein Schutz."

Ein Rat für junge Menschen

Einen Rat hat sie, für junge Menschen, die heute so alt sind wie sie damals: "Macht die Augen auf und guckt euch alles selber an. Mein Vater hat mir einen sehr netten Satz gesagt: Das meiste, was die Leute sagen, ist Lügen und Wind, mach selbst die Augen auf. Was für ein kluger Satz!" - und sie schiebt noch hinterher: "Wie recht er gehabt hat."

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Schleswig-Holstein Magazin | 29.01.2023 | 19:30 Uhr

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