Soziale Lage in Niedersachsen verschlechtert sich rasant

Stand: 02.01.2023 06:00 Uhr

Das soziale Klima wird rauer. Wohlfahrtsverbände, Mieterbund und soziale Wohnungswirtschaft fürchten: Hilfen könnten für viele Menschen zu spät kommen - mit verheerenden Folgen für die Gesellschaft.

von Christina Harland

Viele Menschen in Niedersachsen leiden unter hohen Kosten für Energie und Lebensmittel. Dazu kommen Tausende Geflüchtete, vor allem aus der Ukraine, die Hilfe brauchen. Während sich die Folgen von Corona und Ukraine-Krieg überlagern und gegenseitig verstärken, ist milliardenschwere Hilfe von Bund und Land angekündigt.

Leben von 200 Euro im Monat

Margit Lehman im Porträt. © NDR
Margit Lehmann lebt von ihrem Ersparten, doch das Geld wird immer weniger.

Wenn Margit Lehmann Miete und Nebenkosten bezahlt hat, bleiben ihr im Monat noch 200 Euro zum Leben - für alles. Die 76 Jahre alte Rentnerin hat lange in Südafrika gearbeitet und gutes Geld verdient. Nach Deutschland kam sie vor drei Jahren zurück, um ihre Mutter zu versorgen. Sie lebt von ihren Ersparnissen. Doch nach dem Währungsverfall in Südafrika und bei der gegenwärtigen Inflation in Deutschland geht das Geld auf ihrem Konto zur Neige. Das hatte sie sich anders vorgestellt. Sie ist froh, dass sie für eine geringe Miete bei Bekannten wohnen kann.

"Ich bin am Limit"

Ihre Grundversorgung an Lebensmitteln deckt sie über die Tafel ab, Kleidung, Bücher und Hausrat kauft sie im sozialen Kaufhaus. Sie lebt auf Sparflamme: "Ich bin am Limit. Wenn jetzt irgendwas passiert, sei es mit meiner Wohnung oder dass die Tafel zumachen würde, dann wüsste ich nicht, wie ich überleben sollte."

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Jeder Sechste von Armut betroffen

Margit Lehmann ist arm. Und mit ihr mindestens 1,3 Millionen weitere Niedersachsen. Aktuell liegt die Armutsquote bei 16,8 Prozent, das ist jeder Sechste - Rekordniveau. Damit liegt das Land leicht über dem Bundesdurchschnitt (16,6 Prozent). Noch besorgniserregender wird der Blick auf die Werte für bestimmte Altersgruppen: Unter den Minderjährigen etwa liegt die Quote bei 21 Prozent, hier ist jeder fünfte armutsgefährdet, bei jungen Erwachsenen ist es mit 24,8 Prozent rund ein Viertel und bei alten Menschen ab 65 Jahre liegt die Quote bei 17,9 Prozent. Frauen sind im Alter besonders von Armut betroffen (20,2 Prozent).

Wer gilt als armutsgefährdet?

Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen monatlichen Haushaltsnettoeinkommens zur Verfügung hat. Die Schwelle zur Armutsgefährdung liegt aktuell für einen Ein-Personen-Haushalt bei 1.117 Euro. Bei zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 liegt sie bei 2.346 Euro.

Landesarmutskonferenz rechnet mit wachsender Tendenz

Diese jüngsten Zahlen des Niedersächsischen Landesamts für Statistik beziehen sich allerdings auf 2021. Sie dürften bei der nächsten turnusmäßigen Erhebung deutlich höher ausfallen, vermutet Klaus-Dieter Gleitze, Geschäftsführer der Landesarmutskonferenz, einem Bündnis von Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Hilfsinitiativen: "Angesichts der explodierenden Inflation, gerade im Nahrungsmittel- und Energiebereich, dem Ukraine-Krieg, einer drohenden Rezession, dem Corona-Winter und steigenden Klimafolgekosten droht die Schieflage zu einer Dauereinrichtung zu werden, mit wachsender Tendenz."

Tafeln sollen Not lindern - und geraten selbst unter Druck

Erste Anlaufstelle für arme Menschen sind die Tafeln. Inzwischen werden ukrainische Geflüchtete von vielen Jobcentern schon direkt auf die Unterstützung der Ehrenamtlichen verwiesen, berichten Tafelhelfer. Mittlerweile versorgen die Tafeln mehr als 200.000 Menschen. Die Bedürftigen werden kontinuierlich mehr, die Lebensmittelspenden dagegen werden weniger, beobachtet Uwe Lampe, Vorsitzender des Landesverbands der Tafeln. Er sieht einen deutlichen Abwärtstrend bei der Spendenbereitschaft.

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Essen wird bei der Tafel ausgeteilt. © Screenshot
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Tafel-Kunden bekommen weniger Lebensmittel

Die Tafeln konkurrierten mit diversen Initiativen zur Lebensmittelrettung, sagt Lampe. Und Discounter wie Lidl legten inzwischen selbst "Retterkisten" auf, in denen sie Lebensmittel mit kleinen Mängeln oder kurz vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums günstiger abverkaufen. Nach Zahlen des Bundesverbands der Tafeln haben deren Kunden heute rund ein Drittel weniger Lebensmittel in der wöchentlichen Tüte als vor der Krise. Und jede dritte Tafel in Deutschland hat einen Aufnahmestopp verhängt, weil sie den Ansturm der Hilfebedürftigen nicht verkraften konnte.

Gereizte Stimmung - Alte geraten aus dem Blick

Vor der Ausgabe der Tafel in Langenhagen-Wiesenau in der Region Hannover stehen die Menschen Schlange - häufig bis auf die Straße. Das ist ein Grund, warum viele Rentner, immerhin ein Viertel der Tafel-Kunden, inzwischen wegbleiben. "Die, die hierher kommen, können nicht so gut laufen und stehen oder sind auch eben schon älter. Es kommen auch viele Flüchtlinge, von daher kann ich nicht so gut verstehen, was die sagen, die ganze Situation ist gereizt", erzählt Margit Lehmann. Gereizte Stimmung, weil es weniger zu verteilen gibt, weil kulturelle Missverständnisse aufkommen und weil das Schlangestehen schambehaftet ist.

Margit Lehmann kommt deshalb immer erst, wenn der größte Ansturm vorüber ist. Manche alten Menschen bleiben trotz ihrer Not inzwischen ganz weg, berichtet Uwe Lampe. Er erzählt, wie sich viele in die stille Armut zurückziehen und für die Helfer nicht mehr erreichbar seien. Das mache ihm Sorgen.

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Konflikte bei der Lebensmittelausgabe: Polizei schult Ehrenamtliche

Auch die Konflikte bei der Ausgabe der Lebensmittel machen ihm Sorgen. Mancherorts sind die so eskaliert, dass die Ehrenamtlichen die Polizei holen mussten. Uwe Lampe will das nicht überbewerten: "Ein paar Mal hatten wir solche Fälle. Es gibt diese Konflikte. Wir hatten das Glück, dass die Polizeiakademie in Nienburg mit uns ein Seminar für Tafel-Helfer entwickelt hat - zur Deeskalation." Anfang Dezember liefen die Seminare für die Ehrenamtlichen.

"Die Mitte der Gesellschaft zerbröselt"

Klaus-Dieter Gleitze hat das Gefühl, "die Politik ist guten Willens, aber sie versteht noch nicht vollständig, wie dramatisch die Lage ist. Die Mitte der Gesellschaft zerbröselt, und das hat natürlich auch massive Auswirkungen auf unser demokratisches Selbstverständnis. Die Armen sind teilweise resigniert, frustriert, sind mit dem nackten Überleben mittlerweile beschäftigt, weil sie sich darum kümmern müssen, wie kann ich überhaupt noch heizen, wie kann ich mich ernähren, in der Mitte der Gesellschaft ist die Angst vorm sozialen Absturz angekommen." Was bei den Tafeln ablaufe, spiegele die Krise der Gesellschaft. Es sei ein Skandal, dass in einem der reichsten Länder der Welt Menschen der Scham ausgesetzt seien, um Essen anstehen zu müssen.

Bund und Land Niedersachsen haben massive Hilfen aufgelegt

Dabei hat die Politik zum Abfedern der gegenwärtigen Krisen gewaltige Hilfen in Milliardenhöhe auf den Weg gebracht. Der Bund hat eine Energiepreisbremse ab Februar aufgelegt und den Weg dafür frei gemacht, dass mehr Menschen Wohngeld beziehen können. Für den abgelaufenen Dezember übernimmt der Staat mit einer Soforthilfe die Abschlagszahlungen für Gas- und Fernwärme. Und das Land Niedersachsen beteiligt sich mit 55 Millionen Euro an kommunalen Härtefallfonds.

Kraftakt guten Willens - aber reicht das?

Die können Kommunen und örtliche Energieversorger auflegen, um Menschen zu helfen, bei denen die sozialen Hilfen nicht greifen und die von Energiesperren bedroht sind. Bei den Jobcentern können zudem einmalige Hilfen über das Arbeitslosengeld II abgerufen werden, um Engpässe bei denen abzuwenden, die mit ihren Abschlagszahlungen überfordert sind, die aber keine Ansprüche auf Sozialleistungen haben. Ein Kraftakt guten Willens.

Kommunen kommen mit den Härtefallfonds nicht hinterher

Dennoch: Viele, die die soziale Lage im Blick haben, fürchten: Die Hilfen könnten zu bürokratisch sein und für viele zu spät kommen. Schon jetzt, sieht Klaus-Dieter Gleitze von der Landesarmutskonferenz, hingen viele Kommunen mit der Gründung ihrer kommunalen Härtefallfonds hinterher. Das Problem sei, dass das Modell gemeinsam von Energieunternehmen und Kommunen auf den Weg gebrachter Hilfen mit Beteiligung des Landes auf Freiwilligkeit beruhe.

Mieterbund warnt: Hilfen kommen vermutlich zu spät

Reinhold Thadden vom Deutschen Mieterbund hört die Sorgen der Menschen regelmäßig in den Beratungen. Seit dem Herbst nehmen dort die Anfragen deutlich zu. Zur Abrechnung für 2022 gebe es viele Unklarheiten. Vermieter wie Mieter sähen mehr Fragen als Antworten. Er sagt, das Problem komme nicht erst mit den höheren Energiekosten im neuen Jahr. Schon die Abschlagszahlungen für 2022 könnten viele an ihre Grenze bringen: "Ganz plakativ gesagt: Wenn jemand jetzt 5.000 Euro nachzahlen muss, dann nützen ihm viele Hilfen, die danach kommen, möglicherweise nicht mehr, weil sie schlicht zu spät kommen. Das ist der eigentliche Krater in dieser ganzen Lage, dass wir eine Zeit haben, die möglicherweise nicht richtig abgedeckt wird."

Jetzt rutscht auch die Mitte ab

Normalerweise rate der Deutsche Mieterbund seinen Mitgliedern, mit den Vermietern rechtzeitig ins Gespräch zu gehen und Geld für Nachforderungen zur Seite zu legen. Doch viele Menschen schleppten schon enorme Schulden mit sich herum, hätten schlicht nichts zurückzulegen. Für die Armen sei es schon lange schwer, jetzt rutsche auch die Mitte ab.

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Soziale Wohnungswirtschaft fürchtet Liquiditätsprobleme

Eine Sorge, die auch die soziale Wohnungswirtschaft, also kommunale Wohnungsbaugesellschaften und Genossenschaften, umtreibt. Susanne Schmitt, Direktorin des Verbands der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft (vdw) sagt, auch die kommunalen und sozial engagierten Wohnungsunternehmen sorgten sich um einen möglichen Preisschock im kommenden Jahr und die Probleme mit den Abrechnungen für 2022. Das träfe nicht nur viele kleine Leute, die ihre Miete nicht mehr zahlen könnten. Das bedrohe auch die Unternehmen, die ja für die hohen Energiekosten in Vorkasse gehen müssten. Wenn viele Mieter ihre Mieten und Nebenkosten nicht mehr zahlen könnten, wären Wohnungsunternehmen womöglich nicht in der Lage, die Finanzierungslücken zu kompensieren.

Soziales Bündnis fordert Kündigungsmoratorium für den Winter

Gewerkschaften, Verbände und Mieterbund befürchten, dass vielen Menschen eine Energiesperre oder der Verlust der Wohnung droht. Deshalb fordern sie in einem gemeinsamen Brief an Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt und die Ministerpräsidenten der Länder den Schutz vor dem Verlust der Wohnung - ein Kündigungsmoratorium für den Winter. Holger Grond vom Sozialverband VdK formuliert: "Für uns ist wichtig, dass die Regierung Vertrauen schafft. Es ist nötig, dass die Bürger, die wenig Einkommen haben, keine Sorgen haben, dass sie ihre Wohnung verlieren oder dass Strom und Gas abgestellt werden."

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Landesarmutskonferenz: Politik muss nachbessern

"Die Politik hat schon vieles gut gemacht", konstatiert Klaus-Dieter Gleitze von der Landesarmutskonferenz. Aber sie müsse dringend und zügig nachbessern. So müssten die Regelsätze für das neue Bürgergeld, früher Hartz IV, deutlich höher steigen, nicht wie zum Jahresbeginn vorgesehen um 53 Euro, sondern um 200 Euro. Und statt des 49-Euro-Tickets müsse ein 9-Euro-Mobilitätsticket aufgelegt werden, das auch Arme sich leisten könnten.

Armut macht einsam

Margit Lehmann beschreibt sich als positiven Menschen. Doch die Sorge ums Geld nimmt ihr die Lebensfreude und den Spielraum: "Armut macht einsam, weil man sich von anderen Leuten zurückzieht, die mehr Geld haben. Und so bleibt man auf der Strecke zurück."

Sie wollte eigentlich mit ihrem Ersparten im Alter auf eigenen Füßen stehen. Doch ihr Lebensplan ging nicht auf. Jetzt will sie Grundsicherung beantragen: "Es wird schon irgendwie weitergehen, nehme ich an. Aber bestimmt nicht so, wie ich mir das mal vorgestellt habe."

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | Aktuell | 02.01.2023 | 19:30 Uhr

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Sozialpolitik

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