UN-Flagge vor grauen Wolken © picture alliance / photothek | Thomas Koehler Foto: Thomas Koehler

Kommentar zu UN: Zeichen setzen gegen Fliehkräfte der Weltpolitik

Stand: 18.09.2022 06:00 Uhr

Am Dienstag, 20. September, beginnt in New York die alljährliche Generalversammlung der Vereinten Nationen. Der Rede-Marathon der Staats- und Regierungschefs könnte Zeichen setzen gegen die Fliehkräfte der Weltpolitik.

Ein Kommentar von Stephan Richter, freier Autor

Stephan Richter, freier Autor, ehemals Chefredaktion Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag sh:z. © sh:z Foto: Marcus Dewanger
Stephan Richter meint, dass die UN-Generalversammlung allein keine Krisen lösen wird.

Diplomatie steht derzeit nicht hoch im Kurs. So dürfte das mediale Interesse an der 77. Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York eher gering bleiben. Spätestens mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine ist der Glaube an politische Lösungen von Konflikten auf einen Tiefpunkt gesunken. Friedenssicherung und Konfliktbefriedung durch die Vereinten Nationen? Schön wär’s.

Das Schlimmste wäre Resignation

Vergessen ist schließlich nicht, wie der UN-Sicherheitsrat am Abend des 23. Februars um eine friedliche Beilegung der Streitigkeiten rang. Was tat Moskau? Mitten in die Dringlichkeitssitzung hinein platzte Putins Angriffsbefehl auf das Nachbarland. Ein nie dagewesener Affront. Und doch kommen in zwei Tagen wieder Staats- und Regierungschefs aus aller Welt zur alljährlichen Generaldebatte zusammen. Sie werden Frieden und Sicherheit beschwören und - so das Motto dieses Jahres - für Solidarität, Nachhaltigkeit und Wissenschaft plädieren. Das mag angesichts der Vielzahl von Krisenherden hohl klingen. Doch das Schlimmste, was der Staatengemeinschaft angesichts der globalen Herausforderungen passieren kann, ist die Resignation.

Deshalb gibt es trotz allen Unbehagens über die mangelnde Handlungsfähigkeit und Effizienz der Vereinten Nationen keine Alternative zu der Organisation. Es sei denn, die Welt gäbe den Glauben an kollektive Sicherheit und Zusammenarbeit und an eine regelbasierte Weltordnung auf. Zwei verheerende Weltkriege lagen hinter der Menschheit, als die Vereinten Nationen 1945 gegründet wurden. Nun ist es wieder ein Krieg, sind es seine weltweiten Folgen, die Solidarität und Zusammenarbeit der Staatengemeinschaft auf die Probe stellen. So warnt UN-Generalsekretär Antonio Guterres vor einer "beispiellosen Welle von Hunger und Elend". Als Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine steht auch die Energiesicherheit auf dem Spiel und bedroht die Weltwirtschaft.

US-Präsident Joe Biden beendete die Zeit der Ignoranz und Verachtung

Debattieren hilft nicht mehr weiter, werden Kritiker der Vereinten Nationen einwenden. Und es stimmt ja: Die Weltorganisation kann noch so geschlossen auftreten. Die politische Entscheidungsgewalt liegt bei den Mitgliedsstaaten. Doch soll die UN-Diplomatie deshalb die Segel streichen? Wer als Folge der russischen Aggression nur noch auf Aufrüstung setzt, übersieht allein schon die globalen Herausforderungen jenseits aller militärischen Gewalt. Im Kampf gegen Hunger, Pandemie oder Klimawandel führt neues Wettrüsten nicht weiter. Ein Rückfall der Staatengemeinschaft in Blöcke, ein neuer Kalter Krieg wäre in einer Zeit, in der globale Krisen nicht mehr die Ausnahme, sondern der Normalfall sind, die schlimmste aller Entwicklungen. Stattdessen bedarf es einer Zeit "unablässiger Diplomatie", wie es US-Präsident Joe Biden vor einem Jahr bei seinem Auftritt vor der UN-Vollversammlung betonte. Er beendete damit die Zeit der Ignoranz und Verachtung, die sein Vorgänger Donald Trump dem Weltgremium entgegengebracht hatte.

Den Vereinten Nationen wieder mehr Gewicht verschaffen

Mit dem Machtwechsel im Weißen Haus und nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ist der Westen zusammengerückt wie lange nicht mehr. Das gilt vor allem auch für die Europäische Union. Dieser Schulterschluss der freien Welt muss eingesetzt werden, um den Vereinten Nationen wieder mehr Gewicht zu verschaffen. Die UN-Generalversammlung allein wird keine Krisen lösen. Aber sie kann die Verteidigung von Frieden und Freiheit, von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit wieder ganz oben auf die Agenda setzen. Schon viel zu lange haben sich die Demokratien von ihren Kritikern in die Enge treiben lassen. Die Mär, dass autoritäre Staaten im Kampf gegen Krisen effizienter seien, verlockte vor allem Moskau und Peking, sich immer schamloser über völkerrechtliche Normen hinwegzusetzen.

Doch ohne universelle Regeln und Werte wird die Staatengemeinschaft den globalen Bedrohungen nicht wirksam begegnen. Die Pandemie hat das gezeigt, und der Klimawandel lehrt das schon lange. Die bevorstehende UN-Generaldebatte kann ein Zeichen setzen gegen die Fliehkräfte internationaler Zusammenarbeit. Und sie könnte wie vor einem halben Jahr bei der Abstimmung der UN-Resolution zum Ukraine-Konflikt deutlich machen, wie isoliert Moskau dasteht. Zur Erinnerung: Die Vereinten Nationen zählen 193 Mitgliedsstaaten. Doch nur vier von ihnen stellten sich in der Vollversammlung vor sechs Monaten bei der Abstimmung über die Ukraine-Resolution an die Seite Russlands - Nordkorea, Syrien, Weißrussland und Eritrea.

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NDR Info | Kommentar | 18.09.2022 | 09:25 Uhr