VIDEO: Fälle häuslicher Gewalt sind deutschlandweit gestiegen (2 Min)

Faeser: "Häusliche Gewalt ist Alltag in Deutschland"

Stand: 11.07.2023 16:53 Uhr

Auch nach dem Ende der Corona-Pandemie setzt sich die negative Entwicklung bei der häuslichen Gewalt, die sich vor allem gegen Frauen richtet, fort. Die Zahlen sollten "jeden aufrütteln", sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bei der Vorstellung des aktuellen Lagebildes in Berlin. Erstmals erfasst: Gewalt gegen Kinder sowie gegen Verwandte jenseits der Partnerschaft.

Häusliche Gewalt beginne nicht erst mit körperlichen Übergriffen, sagte Kriminalkommissar a.D. Udo Martens am Dienstag auf NDR Info. Es sei vielmehr ein schleichender Prozess. "Die Gewaltausbrüche gehen meist über mehrere Jahre." Oft sei es dann zu spät für die Opfer, sich der Gewalt zu entziehen: Aus Scham, sich zu outen, aus Angst vor den Tätern, aber oft auch aus Sorge um gemeinsame Kinder und Themen wie Sorgerecht oder finanzielle Absicherung.

Weibliche Hände machen eine abwehrende Geste. © Eliza / photocase.de Foto: Eliza / photocase.de
AUDIO: Experte: "Es müssen mehr Frauenhäuser eingerichtet werden" (6 Min)

"Häusliche Gewalt in allen gesellschaftlichen Kreisen"

Fälle häuslicher Gewalt kämen mittlerweile in allen gesellschaftlichen Kreisen vor, so Martens. Und die Dunkelziffer dürfte sogar noch weit höher liegen. Dass die Zahlen insgesamt steigen, sei aber auch ein Zeichen dafür, dass das Thema immer öffentlicher wird, die Anzeigen zunehmen und dadurch auch die Anzahl der bekannten Fälle. "Es ist immer eine gute Idee, von häuslicher Gewalt betroffene Frauen darauf anzusprechen und die Polizei zu rufen, wenn man Zeuge davon wird", sagte Martens.

Es werde jedoch immer noch zu viel geredet und zu wenig gemacht: "Es müssen mehr Frauenhäuser eingerichtet werden", sagte er. Auch der sogenannte Anschlussgewahrsam bei häuslicher Gewalt dauere derzeit nur 48 Stunden und sollte verlängert werden. Denn in dieser kurzen Zeit sei es schwer für betroffene Frauen, Zufluchtsorte zu finden.

Fallzahlen deutlich gestiegen

Im vergangenen Jahr sind in Deutschland laut Bundeskriminalamt (BKA) deutlich mehr Fälle gemeldet worden als im Vorjahr. Es wurden 240.547 Opfer registriert, ein Anstieg um 8,5 Prozent. Niedersachsens Polizeipräsident Axel Brockmann führt den Anstieg vor allem auf eine erhöhte Anzeigebereitschaft zurück. "Opfer trauen sich eher als in den Jahren zuvor zur Polizei zu gehen", sagte Brockmann im Gespräch mit NDR Info.

65,6 Prozent der Opfer waren der offiziellen Statistik zufolge von Gewaltausbrüchen in Partnerschaften betroffen, 34,4 Prozent von innerfamiliärer Gewalt, sprich sie waren Kinder oder andere Verwandte. Allein bei der Partnerschaftsgewalt registrierten die Behörden 157.550 Fälle - gegenüber 144.044 im Jahr davor. Dabei waren 80,1 Prozent der Opfer weiblich. Das BKA zählt zur häuslichen Gewalt alle Formen körperlicher, sexueller oder psychischer Gewalt zwischen Menschen, die in einer familiären oder partnerschaftlichen Beziehung zusammenwohnen. Sie beschreibt demnach auch Gewalt in Familie oder (Ex-)Partnerschaft, die nicht im gemeinsamen Haushalt geschieht.

Dunkelfeldstudie soll 2025 erste Ergebnisse liefern

Dass bei Straftaten in der Familie von einem großen Dunkelfeld auszugehen ist, betonten bei der Vorstellung des Lagebildes Innenministerin Faeser, Familienministerin Lisa Paus (Grüne) und BKA-Präsident Holger Münch gleichermaßen. Dementsprechend gaben die Ministerinnen den Startschuss für eine Dunkelfeldstudie zur Partnerschaftsgewalt, für die rund 22.000 Menschen befragt werden sollen. Erste Ergebnisse sollen 2025 vorliegen. "Häusliche Gewalt ist Alltag in Deutschland", sagte Faeser. Gewalt im engsten Umfeld betreffe viele Frauen, aber auch Kinder oder Pflegebedürftige.

Paus will Frauenhäuser und Beratung stärken

"Ich setze mich dafür ein, die Lücken im Netz der Frauenhäuser und Beratungsstellen zu schließen", betonte Paus. Trotz schwieriger Haushaltslage seien dafür deshalb in diesem und im kommenden Jahr zusätzliche Mittel vorgesehen. Außerdem bereite ihr Ministerium aktuell ein Gesetz vor, das für Betroffene einen Rechtsanspruch auf Schutz vorsehe, sagte sie. Bundesweit gibt es rund 400 Frauenhäuser, rund 100 Schutzwohnungen und mehr als 750 Beratungsstellen.

Um das Hilfesystem bedarfsgerecht und niedrigschwellig auszubauen, müsse die Bundesregierung auch die entsprechenden finanziellen Mittel bereitstellen, betonte Bremens Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Linke). "Wichtig ist mir, dass die geplanten Mindeststandards nicht dazu führen dürfen, dass nur das Minimum finanziert wird und bereits bestehende hohe Standards in den Ländern und Kommunen erhalten bleiben", führte sie aus. Außerdem müssten alle Frauen davon befreit werden, für ihren Gewaltschutz selbst zu bezahlen.

Kinderschutzbund: "Auch das Wohl der Kinder im Blick haben"

Der Kinderschutzbund in Schleswig-Holstein forderte, allem voran das Wohl der Kinder im Blick zu haben. "Wenn es in einer Partnerschaft mit Kindern zu Gewalt kommt, sind auch die Kinder immer die Opfer", sagte Landesvorsitzende Irene Johns. Kinder würden Partnerschaftsgewalt als beängstigend und belastend erleben, sagte sie. Studien zufolge könne in der Familie miterlebte Gewalt negative Auswirkungen auf die Entwicklung eines Kindes haben. Es erlebe körperliche Bedrohung gegenüber einem betreuenden Elternteil auch als Bedrohung gegen sich selbst. Durch spezialisierte Einrichtungen des Kinderschutzes wie beispielsweise Kinderschutz-Zentren könnten Kinder frühzeitig geschützt werden.

Hilfetelefone: Nummern für Ansprechpartner

Wer den Gang an die Öffentlichkeit scheut, kann auch über Hilfetelefone Unterstützung erhalten: Über die Nummer 116 016 können sich Frauen kostenlos, anonym und vertraulich rund um die Uhr melden. Die mehrsprachigen Beraterinnen zeigen Handlungsoptionen auf und helfen etwa bei der Entwicklung von Notfallplänen. Für gewaltbetroffene Männer gibt es das Hilfetelefon "Gewalt an Männern" unter der Nummer 0800-1239900. Kinder, Jugendliche und Eltern können auch anonym und kostenlos unter dem Kinder- und Jugendtelefon "Nummer gegen Kummer" unter 116 111 anrufen.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Aktuell | 11.07.2023 | 10:00 Uhr

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