Deutschland in Putins Visier: "Russland ist aggressiver geworden"
Wie groß ist die Gefahr durch russische Sabotage? Wie reagiert Deutschland auf einen hybriden Krieg? Der frühere Vizepräsident des Bundesnachrichtendienst (BND), Arndt Freytag von Loringhoven, warnt vor einer neuen Qualität der Bedrohung und sieht Deutschland darauf schlecht vorbereitet.
Im Sommer 2024 explodiert am Flughafen in Leipzig ein Brandsatz in einem Luftfrachtpaket. Wenige Tage später gibt es ähnliche Vorfälle in Warschau und Birmingham. Dass die Pakete nicht während eines Fluges explodieren, verhindert womöglich eine Katastrophe. Brandermittler vermuten schnell einen Zusammenhang der Fälle. Recherchen von NDR, WDR und "Süddeutsche Zeitung" zeigen nun: Europäische Sicherheitsbehörden gehen von einer Sabotage durch den russischen Geheimdienst GRU aus.
"Wegwerf-Agenten" für Putins hybriden Krieg
Über einen Mittelsmann sollen die mit den Brandsätzen gefüllten Pakete am Flughafen Vilnius bei einer DHL-Paketstation aufgegeben worden sein. Zuvor soll in mehreren europäischen Ländern ein Netzwerk aus mindestens zehn Personen an der Aktion beteiligt gewesen sein. Das Besondere: Die Personen sollen keine ausgebildeten Agenten sein, sondern sogenannte "Wegwerf"- oder "Low-Level"-Agenten. Sie würden nicht offiziell für den Geheimdienst arbeiten, sondern über Messengerdienste angeworben werden, um dann für geringe Geldbeträge vermeintlich harmlose Aufgaben zu erfüllen.
Offiziell halten sich europäische Behörden in der Sache noch bedeckt. Die russische Botschaft in Berlin bestreitet das Moskau involviert sei, spricht von "Paranoia" und Verschwörungstheorien. Fest steht: Die Vorfälle zeigen, wie verwundbar der Westen ist - auch mit äußerst geringen Mitteln.
Ähnlich sieht es Arndt Freytag von Loringhoven. Der 68-Jährige arbeitete unter anderem an der deutschen Botschaft in Moskau. In verschiedenen Funktionen beim BND und als Diplomat beschäftigt er sich seit Jahren mit der Strategie Wladimir Putins, Europa zu destabilisieren. Im Interview mit NDR Info schätzt er die aktuelle Lage genauer ein.
Herr von Loringhoven, zeigen die Recherchen von NDR, WDR und SZ für sie eine neue Qualität der Bedrohung durch Russland?
Arndt Freytag von Loringhoven: Ja, auf jeden Fall. Seit der Invasion Russlands in der Ukraine kann man feststellen, dass Sabotage-Akte dreimal häufiger stattgefunden haben. Es gibt neue Anwendungsformen wie die Verwendung von sogenannten Low-Level Agenten und eine viel breitere Palette an Sabotage-Akten. Zu denen gehören die Brandanschläge, aber zum Beispiel auch geplante Mordanschläge und Anschläge auf Unterwasserkabel.
Hat Russland seine Strategie nach dem Motto "Gelegenheit schafft Kriegshandlung" verändert?
Freytag von Loringhoven: Die Strategie, einen hybriden Krieg gegen den Westen zu führen, ist schon älter. Da geht es im Wesentlichen darum, den Westen zu schwächen und Russlands Imperialismus freie Bahn zu verschaffen. Russland ist aber aggressiver geworden. Es geht bis zu geplanten Mordanschlägen, etwa auf Rheinmetall-Chef Amin Pappberger. Und die Taktiken sind wesentlich ausgefeilter geworden, auch unter Verwendung von künstlicher Intelligenz.
Welchen hybriden Angriffen ist Deutschland aus ihrer Sicht derzeit ausgesetzt?
Freytag von Loringhoven: Die Aufmerksamkeit in diesem Jahr galt vor allem der Vorbereitung der Bundestagswahlen. Hier wurde festgestellt, dass eine ganze Reihe von Kampagnen in den sozialen Medien gefahren worden sind. Und es bleibt fraglich, ob Russland möglicherweise auch als Drahtzieher hinter den Taten in Aschaffenburg oder Magdeburg stecken könnte. Das wird aber noch untersucht.
Wird diese Bedrohung aus ihrer Sicht von Politik und Behörden in Deutschland ernst genug genommen?
Freytag von Loringhoven: Ich denke nach wie vor nicht. Es gibt aber Fortschritte. Das Bewusstsein ist sicherlich gestiegen, auch in der Politik und den Behörden. Es gibt auch eine neue Koordinierungseinheit im federführenden Bundesinnenministerium. Die ist aber noch sehr klein und es fehlt die rechtliche Grundlage. Und auch die Aufklärung der Öffentlichkeit steckt noch sehr in den Kinderschuhen. Da sind andere Länder wie Frankreich oder Schweden wesentlich weiter als wir.
Was macht es so schwierig eine Antwort auf hybride Angriffe zu finden?
Freytag von Loringhoven: Darüber kann man nur spekulieren. Ich denke, insgesamt hat Deutschland Russland lange Zeit in seiner Aggressivität unterschätzt. Und die jetzige Lage ist immer noch ein Spiegel davon. Es geht aber wahrscheinlich auch darum, dass man befürchtet, dass Deutschland stark unter Handlungsdruck kommt, wenn wir sehr viel mehr in puncto Aufklärung unternehmen. Das scheint mir aber der falsche Weg. Wir müssten hier unbedingt tiefer bohren.
Was heißt tiefer bohren? Wo müsste Deutschland aus ihrer Sicht ansetzen?
Freytag von Loringhoven: Die hybride Bedrohung durch Russland sollte eine Priorität in der nationalen Sicherheit für Deutschland haben. Der neue Nationale Sicherheitsrat, der jetzt eingerichtet werden soll, sollte das Thema als eine wesentliche Querschnittsaufgabe sehen. Dazu brauchen wir aber natürlich viel mehr Ressourcen und auch bessere Strukturen in der Bundesregierung, um Aufklärung zu betreiben und auch Gegenmaßnahmen ergreifen zu können.
Wenn die neue Bundesregierung jetzt auch mehr Geld in die Verteidigung stecken will, wo wäre das Geld effektiv eingesetzt, wenn es um die Abwehr hybrider Angriffe geht?
Freytag von Loringhoven: Indem wir Ressourcen einstellen, um die ganze Palette von hybriden Bedrohungen wirklich aufzuklären. Der Schutz kritischer Infrastruktur ist wahrscheinlich das Allerwichtigste und natürlich sehr teuer, Cyberabwehr ebenfalls. Wir sollten auch die Möglichkeit schaffen, verdächtige Drohnen abschießen zu können. Die sind ja bereits über abgeschaltete Kernkraftwerke und LNG-Terminals geflogen.
Das Interview führte NDR Info Moderatorin Liane Koßmann
