Prof. Dr. Ulrike Ravens-Sieberer vom UKE (l.) und Dr. Daniel Vilser vom Universitätsklinikum Jena © UKE / Universitätsklinikum Jena

Corona-Podcast: Kraft der Familie ist für Kinder bester Krisenschutz

Stand: 17.05.2022 18:45 Uhr

In der Pandemie hat die mentale und physische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen extrem gelitten. Etwa drei Prozent entwickeln Long-Covid-Symptome. Was das für Heranwachsende bedeutet, erklären die Mediziner Ulrike Ravens-Sieberer und Daniel Vilser im Coronavirus-Update von NDR Info.

von Ines Bellinger

Schulen zu, Schulen auf, Maske rauf, Maske runter, testen ja, testen nein - in kaum einer anderen Altersgruppe ist über Corona-Regeln so emotional und kontrovers diskutiert worden wie bei Kindern und Jugendlichen. Und häufig erschien es dabei ganz so, als würden Infektionsschutz und psychosoziale Fürsorge in diesen Altersgruppen einander ausschließen. Zweieinhalb Jahre nach Pandemie-Beginn sind für Wissenschaftler noch immer viele Fragen zu Sars-CoV-2 offen. Klar ist, dass Heranwachsenden in der Pandemie lange zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Das Coronavirus © CDC on Unsplash Foto: CDC on Unsplash
AUDIO: Sonderfolge: Achtet auf die Kinder! (101 Min)

COPSY-Studie: Mentale Gesundheit in Pandemie verschlechtert

"Die Frage des Kindeswohls ist relativ spät aufgekommen", sagt Ulrike Ravens-Sieberer in der neuen Podcast-Sonderfolge. Die Forschungsdirektorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) verantwortet die COPSY-Studie (Corona und Psyche), die Auswirkungen und Folgen der Covid-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen untersucht. Bislang wurden in drei Wellen (Frühjahr 2020, Herbst 2020, Winter 2021) 1.100 Kinder und 1.600 Eltern befragt - mit Erkenntnissen, die Ravens-Sieberer und ihre Kollegen überrascht haben: "Es hat uns erstaunt, dass die Ergebnisse so deutlich waren. Wir hätten nicht vermutet, dass die mentale Gesundheit in Deutschland so viel schlechter wird."

"Vor der Corona-Pandemie empfanden zwei von zehn Kindern eine eingeschränkte Lebensqualität, danach waren es vier von zehn." Ulrike Ravens-Sieberer

Die COPSY-Autoren verglichen ihre Daten mit dem Vor-Pandemie-Zustand aus der sogenannten BELLA-Studie, die schon seit 2003 Daten zum seelischen Wohlbefinden und Verhalten Heranwachsender liefert. "Vor der Corona-Pandemie empfanden zwei von zehn Kindern eine eingeschränkte Lebensqualität, danach waren es vier von zehn", sagt Ravens-Sieberer. Ein nachvollziehbarer Befund, nicht nur für die Wissenschaftlerin: "Im März 2020 hat sich binnen weniger Tage das Leben von 13 Millionen Kindern schlagartig verändert." Schulen und Kitas geschlossen, Spielplätze gesperrt. Kontakte waren nur noch über Social Media oder das Telefon möglich. "Da sind Lebenswelten komplett weggebrochen." Als größte Belastungen gaben die befragten Kinder und Jugendlichen dann auch an, dass sie sich Sorgen um ihre Zukunft machen und Angst haben, ihre besten Freunde zu verlieren.

Seelische Belastung höher als vor Corona

Im Herbst 2020 war laut Studie diese Angst besonders groß, weil nach vorübergehenden Lockerungen wieder strengere Beschränkungen auferlegt wurden. In der jüngsten Befragung im Winter sind die psychischen Auffälligkeiten dann etwas zurückgegangen. "Wir überblicken mit den drei Befragungswellen die ersten 18 Monate der Pandemie", sagt Ravens-Sieberer. "Über die Zeit ist die seelische Belastung für Kinder und Jugendliche etwas zurückgegangen. Sie hat sich aber auf einem hohen Niveau stabilisiert und ist immer noch höher als vor Corona."

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Auch bei Kindern gibt es Post Covid und Long Covid

Welche direkten Auswirkungen eine Covid-19-Erkrankung auch für Jüngere haben kann, das sieht Daniel Vilser an seinen Patienten. Der Kinderarzt und Kardiologe leitet am Universitätsklinikum in Jena seit Anfang 2021 eine Post-Covid-Ambulanz für Kinder. Vilser weiß, dass auch einige Mediziner die Auffassung vertreten, dass es Post Covid und Long Covid bei Kindern gar nicht gibt. Aus seiner Praxis weiß er es besser: "Es wird seltener, je jünger die Kinder sind, aber dass es das bei unter Zwölfjährigen gar nicht gibt, ist Quatsch", sagt er. Während man bei Erwachsenen mittlerweile davon ausgeht, dass etwa jeder Zehnte Infizierte Langzeitfolgen entwickelt, ist die Studienlage bei Kindern und Jugendlicher schwieriger: Die wissenschaftliche Literatur zur Krankheitshäufigkeit schwankt zwischen 0,8 und 13 Prozent.

Vilser: Die meisten Kinder erholen sich schnell

"Die meisten Untersuchungen pendeln sich um die drei Prozent ein", sagt Vilser. "Drei Monate nach der Infektion betrifft es meiner Einschätzung nach nur noch etwa ein Prozent." Bei fünf Millionen infizierten Kindern wären das immer noch 50.000 Post-Covid-Fälle, also Patienten, bei denen Symptome mehr als drei Monate nach der akuten Infektion noch bestehen. Die gute Nachricht: Wie bei der Infektion selbst haben viele von ihnen keine gravierenden Symptome. "Die meisten erholen sich schnell und haben eine gute Prognose." Bei einem kleinen Teil können die Beschwerden aber auch chronisch werden. So betreut Vilser unter anderen ein Mädchen, das sich während der ersten Welle im April 2020 infiziert hat und noch immer schwer beeinträchtigt ist.

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Ambulanz Jena: Jüngstes Kind mit Post Covid neun Monate alt

Auch in den jüngeren Altersgruppen sind offenbar mehr Mädchen als Jungs von Post Covid und Long Covid betroffen, nach Vilsers Beobachtungen auch häufiger Jugendliche, die in der Pubertät sind oder sie schon hinter sich haben. Die Symptome für Spätfolgen sind dieselben wie bei Erwachsenen: Müdigkeit, Erschöpfung, Belastungsintoleranz, Kopf-, Bauch-, Gliederschmerzen, Geschmacks- und Geruchsstörungen. Insgesamt mehr als 200 bislang beschriebene Symptome erschweren vor allem bei kleinen Kindern eine korrekte Diagnose - denn wie sollte zum Beispiel eine Zweijährige Konzentrationsschwierigkeiten zum Ausdruck bringen? Das kleinste Kind, bei dem Vilser bislang die Diagnose Post Covid gestellt hat, war neun Monate alt. Es hatte nach einer Sars-CoV-2-Infektion Schlafstörungen und Atemprobleme entwickelt.

Sozial benachteiligte Kinder besonders belastet

Während Vilsers Patienten aus allen gesellschaftlichen Schichten kommen, sieht Ravens-Sieberer, dass sozial benachteiligte Kinder die Pandemie-Situation als besonders belastend empfinden, vor allem die, die auf engem Raum leben oder deren Eltern selbst psychisch belastet sind. Diese Kinder fühlen sich laut Studie mehr als doppelt so häufig in ihrer Lebenssituation eingeschränkt, sie haben mehr als dreimal so häufig psychische Auffälligkeiten. "Der sozioökonomische Hintergrund ist einer der wichtigsten Risikofaktoren. In der Pandemie ist noch einmal eklatant deutlich geworden, dass es Kindern, die nicht aufgefangen werden und die keine Wertschätzung erhalten, besonders schlecht geht."

Anstieg auch bei psychosomatischen Auffälligkeiten

Auch bei psychosomatischen Auffälligkeiten, also psychischen Belastungen, die sich in körperlichen Beschwerden äußern, verzeichnen Forscher bei Kindern und Jugendlichen einen Anstieg. So haben sich in der COPSY-Studie Angaben zu Kopf- und Bauchschmerzen, Niedergeschlagenheit, Konzentrationsschwächen Einschlafproblemen oder Gereiztheit im Vergleich zu vor der Pandemie fast verdoppelt. In Befragungen von Schülern zum Beispiel werde zudem deutlich, dass auch Kinder Symptome entwickeln, die gar nicht infiziert waren. "Man weiß häufig gar nicht: Ist das jetzt Long Covid oder sind die Kinder von der Pandemie einfach erschöpft", sagt Ravens-Sieberer. "Es ist wichtig, dass wir Strategien entwickeln, um die Belastung zu senken - egal, was die Ursache ist."

Familie ist die beste "Medizin"

Als wichtigste "Medizin" für ihr körperliches und seelisches Wohl empfinden Kinder und Jugendliche selbst ihre Eltern, Großeltern, Geschwister, den engsten Kreis an Menschen um sich herum. In der COPSY-Studie gaben die Befragten den familiären Zusammenhalt und feste Strukturen als wichtigste Schutzfaktoren an. "Es hat uns erstaunt, welche Kraft eine Familie haben kann", sagt Ravens-Sieberer. "Und es ist schön zu sehen, dass das auch bei Kindern aus Risikofamilien schützend wirkt, selbst wenn der Wohnraum beengt und finanzielle Ressourcen begrenzt sind."

Tragen von Masken senkt psychischen Stress

Weil das für alle Krisen gilt, nicht nur für die Corona-Pandemie, fordern Mediziner und Forschende mehr Prävention und eine Stärkung von Strukturen, die Kinder und Jugendliche sicher und stark machen. So weiß Ravens-Sieberer aus den regelmäßigen Befragungen, dass ältere Kinder und Jugendliche Impfungen und das Tragen von Masken häufig als Handlungsoptionen wahrnehmen, die ihnen Angst nehmen und Kontrolle zurückgeben können. Dass Kinder die Masken als belastend empfinden, kann sie aus der Studie nicht ableiten, im Gegenteil: "Es gibt sogar Hinweise darauf, dass das Tragen von Masken mit geringerem psychischen Stress verbunden sein kann, weil man sich selber besser geschützt fühlt und auch weniger Angst vor Ansteckung empfindet."

Vilser: Rechne mit hohen Infektionszahlen im Herbst

Vilser empfiehlt seinen Patienten die Impfung als Schutzmaßnahme. Es gibt zwar noch keine belastbaren Daten, aber er geht davon aus, dass die Impfung bei Jugendlichen das Risiko für Post Covid und Long Covid ähnlich reduzieren kann wie bei Erwachsenen, nämlich um etwa die Hälfte. "Ich gehe davon aus, dass im Herbst die Infektionszahlen wieder massiv hochgehen werden", sagt der Kinderarzt. "Und wir haben vielleicht nicht immer das Glück, dass das Virus in eine Richtung mutiert wie zuletzt Omikron."

Ravens-Sieberer: Wir sind für den Herbst nicht gut aufgestellt

Ravens-Sieberer hält es für ein gutes Signal, dass die Schulen geöffnet bleiben sollen, selbst wenn das Infektionsgeschehen wieder anzieht. "Die Schulen werden als Ort der Wertschätzung und Teilhabe für die Kinder gebraucht", sagt sie, aber: "Meine große Sorge ist, dass wir in den Herbst und Winter reingehen und wieder überrascht sind. Ich kann im Moment nicht erkennen, dass wir gut aufgestellt sind für den Fall, dass wir eine neue Variante bekommen und die Zahlen wieder hochgehen."

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Dabei gehe es nicht nur darum, die Kinder gut zu betreuen, sondern auch die Eltern zu entlasten und psychische Belastungen früh zu erkennen. Die Wartezeiten in kinderpsychiatrischen Ambulanzen, aber auch bei niedrigschwelligen Hilfsangeboten seien schon vor der Pandemie lang gewesen. "Inzwischen schieben wir eine Welle des Bedarfs an psychiatrischer und psychologischer Behandlung vor uns her. Da ist akuter Handlungsbedarf."

Vilser: Steuern hart auf Unterversorgung zu

Noch drastischer formuliert es der Kinderarzt Vilser. Die medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen sei in den vergangenen Jahren konsequent kaputtgespart worden, man steuere hart auf eine Unterversorgung zu, sowohl bei den niedergelassenen Kinderärzten als auch in den Kliniken, sagt er. Auch in seiner Post-Covid-Ambulanz wachsen die Wartezeiten ins Unermessliche.

"Wenn die Kinder von der Pandemie ansatzweise so betroffen gewesen wären wie die Erwachsenen", sagt er, "dann wären wir krachen gegangen." Daniel Vilser

Von der Politik verlangt er, sich auch um eine Patientengruppe zu kümmern, die noch nicht wählen kann. "Wenn die Kinder von der Pandemie ansatzweise so betroffen gewesen wären wie die Erwachsenen", sagt er, "dann wären wir krachen gegangen." Das Gesundheitssystem sei nicht gut genug ausgestattet, um die Folgen der Pandemie so zu bewältigen, wie es getan werden müsste. "Und irgendwann ist das auch mit reinem Enthusiasmus nicht mehr zu kompensieren, den wir sicherlich alle haben als Kinderärzte."

 

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | 17.05.2022 | 18:30 Uhr

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Ein Smartphone mit einem eingeblendeten NDR Screenshot (Montage) © Colourbox Foto: Blackzheep

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