Atomkraft statt Gas - Lohnt sich das überhaupt?
Atomkraftwerke sollten eigentlich Ende des Jahres in Deutschland endgültig ausgedient haben. Doch angesichts der Energiekrise wurde monatelang über einen Weiterbetrieb diskutiert. Wegen Streitigkeiten zwischen den Koalitionspartnern Grüne und FDP hatte Bundeskanzler Scholz (SPD) ein Machtwort zum befristeten Weiterbetrieb gesprochen. Diesen sogenannten Streckbetrieb hat nach dem Bundestag der Bundesrat am 25. November endgültig beschlossen. Aber lohnt es sich überhaupt noch, weiter auf Atomkraft zu setzen?
NDR.de beantwortet in diesem FAQ Fragen zum Stand der Atomenergie in Deutschland.
Was haben Bundestag und Bundesrat beschlossen?
Der Bundesrat hat den Weiterbetrieb der letzten drei deutschen Atomkraftwerke abschließend beschlossen. Die Meiler Isar 2 in Bayern, Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg sowie Lingen im Emsland sollen bis Mitte April 2023 laufen - im "Streckbetrieb". Das heißt, dass zwar keine neuen Brennelemente mehr bestellt werden, die Meiler aber noch bis zum 15. April am Netz bleiben. Einer entsprechenden Änderung des Atomgesetzes hatte der Bundestag bereits am 11. November zugestimmt. Die drei verbliebenen AKW sollten ursprünglich planmäßig am 31. Dezember 2022 vom Netz gehen. Standorte wie Brokdorf in Schleswig-Holstein und Grohnde in Niedersachsen sind bereits seit Ende 2021 außer Betrieb.
Was ist die Begründung für den "Streckbetrieb"?
Der Weiterbetrieb soll helfen, die Energieversorgung im Winter stabil zu halten, nachdem Russland seine Gaslieferungen als Reaktion auf die westlichen Sanktionen aufgrund des Angriffskriegs in der Ukraine gestoppt hat. Zudem wird in Frankreich, das sonst Strom nach Deutschland liefert, nicht so viel Atomstrom produziert wie sonst. Dort sind zahlreiche Meiler wegen technischer Probleme oder Reparaturen vom Netz. In der Bundestagsdebatte betonten Redner und Rednerinnen der Regierungskoalitionen SPD, Grüne und FDP, dass der Streckbetrieb der drei Kraftwerke notwendig sei, um durch diesen Winter zu kommen. Man habe sich die Entscheidung nicht leicht gemacht.
Gab es auch Gegenvorschläge zum zeitlich befristeten Weiterbetrieb?
Der Streckbetrieb ist nach Auffassung der oppositionellen CDU/CSU-Fraktion "ein Minimalkonsens, Ergebnis einer zermürbenden monatelangen Debatte" innerhalb der Ampelkoalition. Eine nur kurzfristige Verlängerung der Laufzeiten bringe zu wenig Entlastung beim Preis und bei der Sicherheit der Energieversorgung. Auch der nächste Winter werde problematisch, sagte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Stefan Bilger (CDU). Er warf der Regierung vor, den Mehrheitswillen der Bevölkerung zu ignorieren. Nach dem Willen der Union sollen die Kraftwerke mindestens bis zum Jahresende 2024 laufen. Sie hatte einen eigenen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht.
Reichen die Brennstäbe für den Streckbetrieb bis Mitte April überhaupt aus?
Nach Angaben der drei Betreiber ist keine Neubeschaffung von Brennstäben nötig, um einen Weiterbetrieb nach dem 31. Dezember 2022 zu ermöglichen. Die Eon-Tochterfirma Preussen Elektra, die das Kraftwerk Isar 2 betreibt, teilte mit, dass das AKW mit den vorhandenen Brennelementen bis März 2023 laufen könne. Für Neckarwestheim 2 sagt Betreiber EnBW, dass mit den "vorhandenen, teilverbrauchten Brennelementen auch nach dem 31. Dezember Strom produziert" werden könne. Nur eine Stromproduktion über das zweite Quartal hinaus sei damit "ausgeschlossen". Auch für das AKW im Emsland sieht Betreiber RWE kein Problem: Das Kraftwerk könne mit den noch genutzten Brennstäben bis etwa Ende April weiterlaufen. Allerdings werde es hier noch einen "Kurzstillstand" zur Neuanordnung der Brennelemente geben müssen, um das Weiterlaufen bis April zu gewährleisten.
Ist die Sicherheit der Meiler auch über den Jahreswechsel hinaus gewährleistet?
Aus Sicht des Umweltministeriums als oberster Atomaufsichtsbehörde ist der Weiterbetrieb der Kraftwerke "mit der nuklearen Sicherheit vereinbar", da es sich nur um eine zeitlich befristete Verlängerung handelt. Dies gewährleiste auch Verfassungs- und EU-Rechtskonformität, heißt es weiter. Ein Betrieb bis Mitte April 2023 sei außerdem nur dann zulässig, "wenn alle atomrechtlichen Anforderungen eingehalten" würden. Dafür würden die zuständigen Landesbehörden Sorge tragen. Auch der technisch-wissenschaftliche Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, Uwe Stoll, schätzt das Sicherheitsniveau der drei Kernkraftwerke generell als hoch ein. "Wenn die Anlagen durchlaufen, habe ich keine Sicherheitsbedenken", sagte Stoll.
Was sind die technischen Parameter des AKW Emsland?
Das Kernkraftwerk Emsland ist vor 34 Jahren in der Nähe vom niedersächsischen Lingen in Betrieb genommen worden. Es zählt nach Angaben des Betreibers RWE zu den weltweit leistungsstärksten und zuverlässigsten Kraftwerken. Nach Angaben von RWE produziert das Werk, in dem mehr als 300 Beschäftigte arbeiten, bislang jährlich rund elf Milliarden Kilowattstunden Strom und versorgt damit 3,5 Millionen Haushalte. Im Reaktor befinden sich 193 Brennelemente.
Welche Auswirkungen hat der Weiterbetrieb auf die Stromversorgung?
Insgesamt steuern die drei noch laufenden AKW etwa fünf Prozent der deutschen Stromproduktion bei. Nach Angaben von Wirtschaftsministerium und Betreiber RWE könnten die AKW, wenn sie bis Mitte April laufen, zusammen ungefähr etwas mehr als fünf Terrawattstunden zusätzlichen Strom liefern. Eine Terrawattstunde entspricht einer Milliarde Kilowattstunden. Zum Vergleich: Deutschland braucht pro Jahr etwas mehr als 550 Terrawattstunden. Wie groß am Ende der Effekt sein wird, hängt aber von der tatsächlichen Leistung der Kraftwerke und der Stromlage im Winter ab. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft sieht den Streckbetrieb positiv. "Jede zusätzliche Kilowattstunde erhöht die verfügbare Menge Strom und kann dazu beitragen, die Preise zu senken und die Versorgung zu sichern", sagte BDEW-Hauptgeschäftsführerin Kerstin Andrae.
Können Atomkraftwerke Gaskraftwerke ersetzen?
Atomkraftwerke sind Grundlastkraftwerke, die den ganzen Tag über Strom produzieren, lassen sich aber nur langsam regeln. Gaskraftwerke sind Kraftwerke, die sich schneller hochfahren lassen und vor allem die Spitzenlast abdecken, also erhöhten Strombedarf - etwa am Abend oder wenn Wind und Sonne zu wenig Energie liefern. Weil Gaskraftwerke aber auch noch Wärme produzieren, die von Haushalten als Fernwärme benutzt wird, können diese nicht einfach durch Atomstrom ersetzt werden.
Wie viel Gas könnte Atomkraft einsparen?
Der Weiterbetrieb von Atomkraftwerken würde vor allem dazu führen, dass Kohlekraftwerke weniger Strom produzieren müssen. Das Einsparpotenzial für Gas sei allerdings gering, so die Energie-Beratung "Energy Brainpool". Sie geht in einer Analyse davon aus, dass ein Weiterbetrieb der drei verbliebenen AKW in Deutschland nur ein Prozent des jährlichen Gasverbrauchs einsparen würde. Diese Zahl nennt auch die Ökonomin Claudia Kemfert. Weil AKW nur Strom produzieren, Gasheizkraftwerke jedoch Strom und Wärme, sei es ihr zufolge nicht ratsam, wieder stärker auf Atomkraft zu setzen.
Ist am 15. April wirklich endgültig Schluss mit Atomkraft in Deutschland?
"Am 15. April ist es mit den Atomkraftwerken in Deutschland Schluss." Das hatte Kanzler Scholz nach seinem Machtwort erklärt. Der SPD-Abgeordnete Carsten Träger sagte bei der Bundestagsdebatte mit Blick auf den 15. April: "Ich werde an diesem Tag meine Kinder und meine Frau umarmen und mit einem Glas Sekt anstoßen." Denn es bleibe trotz des vorübergehenden Streckbetriebs beim Atomausstieg. "Da können Sie von der Unionsfraktion sich auf den Kopf stellen, mit den Füßen wackeln, dann ist Schluss, ein für alle Mal", so Träger. Seine Fraktionskollegin Nina Scheer warnte, mit einem längerfristigen Weiterbetrieb von Atomkraftwerken würden erneuerbare Energien verdrängt.