Kommentar: Hamburg braucht die Kirchen

Stand: 01.07.2023 08:40 Uhr

Den großen Kirchen laufen die Menschen in Scharen davon. Im vergangenen Jahr haben bundesweit mehr als eine halbe Million Katholiken ihrer Kirche den Rücken gekehrt - so viel wie noch nie in der Geschichte. Dasselbe Bild auch in Hamburg. Die Kirchen schrumpfen - auch die evangelische - und das dramatischer als prognostiziert. Das wird Folgen haben auch für das Leben in Hamburg. Daniel Kaiser kommentiert.

von Daniel Kaiser

Diese Zahlen sind die Quittung für ein komplettes Versagen der katholischen Kirchenführung. Ich kenne gläubige Menschen, die ausgetreten sind, weil sie diesen Apparat nicht mehr ertragen konnten. Auch nach Jahren der Skandale und Diskussionen hat man immer wieder den Eindruck: Das ist eine Kirche, der es nur um sich selbst geht. Viele Katholikinnen und Katholiken schauen irritiert auf das weltfremde Pingpong zwischen Vatikan und Bischöfen. Und fassungslos stehen die engagierten Priester und Gemeindeglieder in unserer Stadt vor dem Scherbenhaufen.

Kirche ist oft besser als ihr Klischee

Die evangelische Kirche hat nicht so viele Skandale, aber trotzdem laufen ihr die Menschen weg. Viele trauen ihr nicht einfach nicht mehr zu, etwas Relevantes zu sagen zu haben. Das hat auch die große NDR Umfrage gezeigt. Da ist viel kaputt gegangen in den letzten Jahrzehnten. Taufen, Trauungen und kirchliche Beerdigungen in Hamburg gehen dramatisch zurück. Die Menschen denken, dass sie da einfach nur bepredigt werden. Dass das schon lange nicht mehr so ist, dass Pastorinnen und Pastoren ganz individuell auf Wünsche eingehen, hat sich noch nicht rumgesprochen. Kirche ist oft besser als ihr Klischee. Es gibt lebendige Popmusikgottesdienste in Winterhude und Wohnzimmerkirche in Lohbrügge und Ottensen. Ich erlebe immer wieder: Menschen glauben, aber sie sehen die evangelische Kirche nicht mehr automatisch als attraktive Heimat.

Größtenteils selbst verschuldet in die Bedeutungslosigkeit

Niemand muss heute mehr Mitglied einer Kirche sein. Das war in Hamburg lange anders. So religiös frei wie heute war unsere Gesellschaft noch nie. Und das ist gut so. Dass dann natürlich die Kirche kleiner wird, ist keine Überraschung. Das Tempo aber, mit dem die Kirchen der Bedeutungslosigkeit entgegentaumeln, ist größtenteils selbst verschuldet.

Ausstrittswelle mit Folgen

Die Austrittswelle wird auch in Hamburg Folgen haben. In den nächsten Jahren werden viele Kirchen und Gemeindehäuser geschlossen, anders genutzt oder abgerissen - zum Beispiel die Friedenskirche in Berne oder die Lukaskirche in Sasel. Manchmal sind die Gemeinden aber die letzten Orte in einem Viertel, in denen man sich begegnen kann und in denen es Kultur gibt. Kirchliche Schulen, Kitas und Krankenhäuser werden mit staatlichem Geld aber eben auch mit eigenem und mit Engagement betrieben. Wenn die Kirche das nicht mehr bezahlen kann, wird der Staat, also der Steuerzahler, als Betreiber einspringen müssen. Ohne Kirche in Hamburg gäbe es im Prinzip kein "Hinz und Kunzt". Keine Bahnhofsmission.

Kirchen haben eine Zukunft

Ich meine: Hamburg braucht die Kirchen. Als Kitt der Gesellschaft. Als konstruktives Gegenüber zur Politik. Als Anwalt für die, die Hilfe brauchen. Als ein Zuhause für Einsame in unserer Stadt. Als Ort der Begegnung. Der Theologie Dietrich Bonhoeffer hatte schon in den 1940er-Jahren eine Vision, wie Kirche heute aussehen müsste. Ganz einfach. Er sagte: "Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist." Ich meine, wenn die Kirchen verstehen, dass es nicht um sie geht, dann haben sie auch eine Zukunft in dieser Stadt.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 90,3 | Der Hamburg-Kommentar | 01.07.2023 | 08:40 Uhr

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