Ein venezianischer Gondoliere fährt seine Gondel durch die engen Kanäle von Venedig. © picture alliance / CHROMORANGE Foto: Michael Bihlmayer

Tendenz fallend - Wie ist Venedig noch zu retten?

Stand: 08.10.2022 06:00 Uhr

von Martin Tschechne

Venedig: der beste Ort, um Lösungen entwickeln

Haben sie woanders auch Straßen aus Wasser und eine Geschichte, die vor tausend Jahren schon bis in den Orient und bald darauf bis nach China reichte? Haben sie nicht. Aber vielleicht ist Venedig gerade deshalb - und nicht nur wegen seiner 436 Brücken - der beste Ort, um darüber zu reden, wie sich Konzepte übertragen lassen, Lösungen entwickeln und Herausforderungen gemeinsam stemmen. Sie erleben das ja jeden Tag: die drängenden Massen, steigende Wasserspiegel, die Gier der Investoren. Und die Öffentlichkeit muss nicht erst überzeugt werden. Die Stadt verfällt und jeder kann es sehen. Der Verfall ist Teil ihrer Attraktion; wer es nicht besser weiß, spricht von morbidem Charme.

Sie retten also. Verhängen Kathedralen und Palazzi mit Planen, auf denen fußballfeldgroß die Werbebotschaft eines Finanziers prangt, Benetton oder Prada aus Italien, Huawei aus China. Und restaurieren. Entkernen, widmen um, retten alte Bausubstanz und höhlen sie aus, bewahren den Glanz vergangener Großartigkeit und erfinden die Stadt zugleich neu. Eigentlich ein Paradox. Und die verbliebenen Bewohner mahnen, dass gerade dadurch alles viel schneller gehen könnte.

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Wer kann das heute noch bezahlen?

Die Fondaco dei Tedeschi, 1228 gegründet als Handelshaus der deutschen Kaufleute in Venedig, wurde vom Büro des Architekten Rem Koolhaas in ein Luxus-Shoppingcenter mit roter Rolltreppe verwandelt. Shopping immerhin, also Handel - zuletzt war dort die Post untergebracht. Ist das so viel näher am Geist des Ortes? Der Japaner Tadao Ando baute die Punta della Dogana, die ehemalige Zollstation, aus zu einem Museum für die Kunstsammlung von Francois Pinault. Der französische Unternehmer hatte zuvor auch schon den Palazzo Grassi für seine Kollektion moderner und zeitgenössischer Kunst herausputzen lassen.

Alte Venezianer trauern, wenn der Gemüsemann oder der Käsehändler an der Ecke seinen Laden aufgibt. Und sie werden böse, wenn einer ein 800 Jahre altes Bauwerk mit einer Rolltreppe aufpeppt. Aber mal angenommen, es hätte niemand den Ehrgeiz und das Geld aufgebracht, die alten Paläste wieder auf Hochglanz zu polieren: Was wäre aus ihnen geworden? Prunk und Repräsentation waren die Gründe, sie zu bauen. Hochglanz war ihr Daseinszweck. Wer kann und will das heute noch bezahlen? Die Frage lautet: Wie viel Venedig bleibt, wenn irgendein internationaler Konzern für Mode oder Mobiltelefone die Sache in die Hand nimmt?

Eine Frage von Respekt und Sensibilität

Es ist eine Frage von Respekt und Sensibilität. Gerade hat der Brite David Chipperfield die Alten Prokuratien, das lang gezogene Verwaltungsgebäude auf der Nordseite des Markusplatzes, im Auftrag des Versicherungskonzerns Generali restauriert. Es sei ein beinahe archäologisches Projekt gewesen, berichtet der Architekt nach der Eröffnung im Sommer: zu entdecken und zu retten, was noch da war, Böden aus venezianischem Terrazzo, Stuckaturen, Reste alter Freskomalereien, und es zu integrieren in ein ganz neues Nutzungskonzept mit großzügigen Ausstellungs- und Veranstaltungsräumen und ausgebautem Dachgeschoss. Alles sehr neu und sehr elegant. Natürlich wurde die Fassade nicht angerührt, der Platz vor dem Markusdom ist ein Heiligtum der Stadt. Aber erstmals ist das historische Gebäude der Öffentlichkeit zugänglich. Und die Presse jubelte: Das alte, längst schon vertraute Venedig habe eine neue Attraktion. Brauchte es noch eine?

Vielleicht war es der Venezianer Carlo Scarpa, der nachfolgende Architekten gelehrt hat, wie sich ihresgleichen in einem Gesamtkunstwerk wie Venedig zu bewegen hat - auf Zehenspitzen nämlich. Er selbst gilt, 1978 gestorben, als wichtigster Vertreter einer feinfühligen, wissenden, tief in der Geschichte der Stadt und ihrem Mythos verwurzelten Moderne. Trotzdem - oder gerade deshalb - sind seine Arbeiten nicht gar so öffentlich, nicht gar so leicht zu finden. Eine private Wohnung, ein Garten mit Wasserspielen im alten Palazzo Querini Stampalia, ein Geschäft für Schreibmaschinen am Markusplatz oder der Skulpturengarten auf dem Gelände der Biennale. Venedig lebt von seinem Geheimnis. Geheimtipps sind die Orientierungsmarken der Besucher. Dieser Carlo Scarpa wäre so einer.

Übersicht
Eine Reihe von Uhren steht in einem leeren Fabrikgebäude. Eine zeigerlose Uhr ist frontal zu sehen. © Roberto Agagliate / photocase.de Foto: Roberto Agagliate

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 08.10.2022 | 13:05 Uhr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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