NachGedacht: Russland verlassen oder Hände brechen gegen den Krieg?
Wie zum Hohn hat Putin am Weltfriedenstag die Teilmobilmachung verkündet. Was heißt das für hunderttausende Betroffene? Und für Millionen Couch-Strategen?
Ein grausiges Gedankenspiel: In Deutschland ist einer an der Macht, der Deutschland größer machen will. Er beginnt einen Krieg gegen Österreich. Der Krieg heißt "Spezialeinsatz zur Unterstützung der Überwindung transalpin-undeutschen Neutralitäts-Beharrens". Viele Deutsche applaudieren. Bis es gründlich hakt. Der Mann, der in Deutschland herrscht, verkündet die Mobilmachung, verbunden mit raunenden Massenvernichtungsdrohungen. Und nein, das sei kein Bluff.
Halt, stopp, Unsinn: Das Gedankenspiel ist zu schrecklich. Es ist falsch in jedem Punkt, und es ist frivol. Schließlich gab es in Deutschland eine Zeit, in der ein Diktator --- und wieder sage ich stopp: Werden nicht seit Februar permanent solche Analogien aufgemacht, so heftig sie historisch auch wackeln? Werden nicht Schlüsse gezogen, die in ihrer Radikalität manchmal nur noch erstaunen? Sie können einen beliebigen Online-Artikel über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine überfliegen, spätestens in den Kommentaren darunter werden Sie einen finden, der wie ein Pokerkönig fordert, jetzt "all in" zu setzen. Wie damals gegen Hitler. Die Ukraine verzeichnet Erfolge, Putin weicht zurück - also bitte, jetzt "all in"! Alle nicht vorhandenen Panzer schicken, und zwar jetzt, sofort.
"All in" gehen gegen Putin?
Der Gedanke, dass ein autoritär-diktatorischer Machthaber mindestens so geneigt sein könnte, "all in" zu spielen, wie ein Entscheidungsberserker, der sich auf der Couch zum Militärexperten fortgebildet hat - dieser Gedanke ist nicht populär. Aber er bleibt nötig. Und nein, das ist kein Plädoyer für Angsthasenpolitik, Kneifen, Sich-Unterwerfen. Es ist ein zarter Dank dafür, dass niemand, der demokratisch gewählt ist, derzeit ernsthaft "all in" spielen will. Ehrlich gesagt: Denen, die "all in" verlangen, nehme ich sowieso nicht ab, dass sie meinen, was sie sagen. Sonst wären sie an der Front. "All in".
Russland: Stimmung verändert sich durch Teilmobilmachung
In Russland scheint ein Meinungswandel etliche Köpfe ereilt zu haben. Solange die "militärische Spezialoperation" in ihrer verbrecherischen Brutalität durch andere exekutiert wurde und halbwegs glimpflich verlief - solange war sie noch ganz in Ordnung. Jetzt nicht mehr. Im Internet herrscht Hochkonjunktur für seltsame Suchanfragen. Sie heißen "Wie kann ich Russland verlassen" oder "Wie drücke ich mich vor der Armee". Konkrete Hilfestellung ist gefragt: "Hand brechen" wird jetzt häufig gesucht, denn mit gebrochener Hand wird man nicht an die Front geschickt. Auch sind Flüge aus Russland heraus ausgebucht. Wer nicht greifbar ist, wird nicht mobilgemacht.
Und schon wird erbittert diskutiert, ob Russen, die jetzt erst ins Ausland fliehen, überhaupt Aufnahme finden sollen. Ja, was wäre die Alternative? Will man die, die erst begreifen, wenn es ans eigene Leben geht, lieber für Russland kämpfen sehen? Wünscht man ein Maximum an Kriegsbeteiligung? Und da wir schon verrückte Gedankenspiele angestellt haben: Was wäre wohl geschehen, wenn sich hunderttausende Deutsche ihre Hände gebrochen hätten, statt sich zum Erobern in die Sowjetunion schicken zu lassen? Mir scheint, bei aller Vorsicht: Wer sich in dem Moment, in dem "all in" persönlich wird, aus Putins Fängen retten will - der sollte Unterstützung erhalten. Googeln wir also "Hand brechen", bitten wir Freunde, die Russisch sprechen, die Suchergebnisse zu übersetzen - auf dass sich Mobilgemachte in Russland massenhaft dem Krieg entziehen. Das ist jetzt Friedensaktivismus: anderen dabei helfen, sich selbst Gewalt anzutun. Dahin kam es, in kürzester Zeit. Es ist vielleicht ganz gut, sich Rechenschaft darüber abzulegen: Manches, was wie ein Gedankenspiel wirkt, kann urplötzlich furchtbar real sein - gegen alle Wahrscheinlichkeit. Das ist die Lehre des Jahres. Es ist eine Lehre fürs Leben.