NDR Kultur Literaturredakteur Alexander Solloch vor einer Backsteinwand. © NDR Foto: Manuel Gehrke

NachGedacht: Entschuldigen Sie mal!

Stand: 29.09.2022 17:48 Uhr

Schuld macht uns allen schwer zu schaffen. Wie befreit man sich am besten von ihr? Wie Friedrich Merz: Indem man sich möglichst gekonnt entschuldigt. Alexander Solloch über das Konditionalpardon.

von Alexander Solloch

Im großen Gefühlsfeld "Beleidigung, Verletztheit, Entschuldigung" sind momentan zwei interessante Entwicklungen zu beobachten. Es ist wichtig, sie eingehend zu studieren: Wie schnell kann es einem in diesen Zeiten passieren, jemanden zu beleidigen oder sich höchstselbst verletzt fühlen zu müssen! Darauf sollte man vorbereitet sein. Und sich zu entschuldigen ist sowieso immer gut, da macht man gar nichts falsch.

Zur unumstößlichen Wahrheit verfestigt sich immer mehr die irgendwann einmal bloß versuchsweise in Umlauf gebrachte Behauptung, eine Äußerung über eine Gruppe von Menschen sei schon dann als beleidigend einzustufen und moralisch zu ächten, wenn sich auch nur ein einzelner von ihr verletzt fühle. Das Ausmaß moralischer Verkommenheit wird bestimmt von individueller Sensibilität. Das Problem daran ist nur die im Kern extrem undemokratische Verschlossenheit dieses Gedankens. Es reicht ein beleidigter Aufschrei, und jede weitere Diskussion wird unmöglich. In Zeiten, in denen die eigene Verletzlichkeit zum Distinktionsmerkmal wird, hängt die Latte durchaus mal niedrig.

Guter Trick für professionelle Beleidiger

Es ist also nicht leicht, oder im Gegenteil: Es ist allzu leicht - unbefriedigend leicht – heutzutage schwungvoll zu beleidigen. Unterdessen haben sich aber die professionellen Beleidiger einen sehr guten Trick ausgedacht. Ihren empörenden Worten lassen sie - nachdem die erste Empörungswelle ordnungsgemäß angestrandet ist - bald das Konditionalpardon folgen. Die künstliche Aufspaltung der Menschheit in "Beleidiger" und "Beleidigte", die dieser Text vornimmt, ist eine rein dramaturgischen Zwecken folgende rhetorische Figur. In der Regel ist der Beleidiger tatsächlich immer auch beleidigt. Ein Mensch aus einem Guss.

Das Konditionalpardon ist eine neue und sehr simple Erfindung, sie geht so: "Ich bedauere die Verwendung des Begriffs 'Idioten'. Wenn sich jemand davon verletzt fühlt, dann bitte ich um Entschuldigung!" Das bedeutet übersetzt:

  1. Wer sich verletzt fühlt, ist ein verheultes Weichei. Ich bitte es gleichwohl um Entschuldigung.
  2. Wenn sich keiner verletzt fühlt, bitte ich nicht um Entschuldigung, denn recht habe ich natürlich sowieso.
  3. Idioten!

Mucki-Vergleich von Friedrich Merz mit Markus Söder

Friedrich Merz, den sein Besuch in Kiew vor einigen Monaten offenbar gar nichts gelehrt hat, scheint den Krieg nach wie vor als bloße PR-Show zu betrachten. Dieser Kriegstourist Friedrich Merz hat - rein zufällig unmittelbar nach dem Sieg sehr rechter Kräfte bei den italienischen Parlamentswahlen - ukrainische Flüchtlinge als "Sozialtouristen" bezeichnet. Ein kleiner Mucki-Vergleich mit Markus Söder, der ja mal das böse Wort von den "Asyltouristen" ausprobierte, als er zeitweilig dachte, ein paar Prisen Fremdenfeindlichkeit brächten ihn vielleicht weiter.

Im Begründungsteil servierte Merz nun leider sehr dünne Suppe: Er störte sich daran, dass manche Menschen aus der Ukraine zunächst nach Deutschland geflohen, dann zeitweilig wieder in ihre Heimat zurückgekehrt und nun abermals nach Deutschland gekommen seien. Mal hier, mal dort, es klang fast so, als beschreibe Sozialtourist Merz den Verlauf seiner eigenen Karriere. Mal in der Politik, dann in der Wirtschaft, dann wieder in der Politik, immer da, wo ihm gerade ein warmes atomstrombetriebenes Büro mit Twitteraccount zur Verfügung steht.

Die besonders raffinierte Zusatzvariante

Also schrieb er: "Wenn meine Wortwahl als verletzend empfunden wird, dann bitte ich dafür in aller Form um Entschuldigung." Aber nur dann. Und auch nur formal, nicht etwa noch inhaltlich: Wo kämen wir denn da hin? In den Staatskanzleien von Kiel und Düsseldorf wurden zur Feier des Tages die Orangensafttüten geschüttelt: Jetzt wissen Daniel Günther und Hendrik Wüst, dass sie die nächste Kanzlerkandidatur der Union nur noch unter sich ausmachen müssen, ohne Mitwirken der Wirrköpfe Merz und Söder. Munter plappern diese sich in die Bedeutungslosigkeit, die ihnen ganz entspricht.

Sollte jemand diese Feststellungen als verletzend empfinden, bitte ich dafür natürlich formvollendet um - Achtung, jetzt kommt die besonders raffinierte Zusatzvariante, die nehmen wir mit allen Feinheiten beim nächsten Mal durch - Verständnis!

 

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 30.09.2022 | 10:20 Uhr

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