Zwischen den Fronten
Die Debatte um Deutschtürken und ihr Demokratie-Verständnis
Viele Deutsche können nicht nachvollziehen, dass angesichts von Massenverhaftungen und Gewalt von einem "Demokratietriumph" in der Türkei gesprochen wird. Andererseits kritisieren zahlreiche Deutschtürken, dass der vereitelte Militärputsch in der Türkei hierzulande zu wenig gewürdigt wurde. Die Journalistin und Netz-Aktivistin Kübra Gümüsay fühlt sich manchmal zwischen den Fronten. Sie kann beide Seiten verstehen.
Ein Kommentar von Kübra Gümüsay
Wir Türkeistämmigen in Deutschland wissen, was es heißt, in einer multikulturellen, multireligiösen, multiethnischen Gesellschaft zu leben: auf Freiheiten zu pochen und viel öfter, aus Rücksicht zu verzichten, für den anderen einzustehen und das Miteinander immer wieder neu zu verhandeln.
Wir genießen die Vorzüge dieses Lebens, wir erleben aber auch, wo es hakt. Wir kennen die Narben, die eine erstarkende AFD, die Sarrazin-Debatte, NSU-Morde und brennende Flüchtlingsheime hinterlassen.
Über Grenzen hinweg
Dabei waren es genau diese Erfahrungen, die mich maßgeblich prägten. Sie zwangen mich aus meiner Lebensrealität herauszutreten, den Hass zu begreifen und mich mit meinem Gegenüber zu beschäftigen, damit ich Missstände überhaupt kommunizieren konnte.
Das Leben in der Minderheit öffnete mir die Augen für Privilegien und Ungerechtigkeiten in dieser Gesellschaft, die sichtbaren wie unsichtbaren. Es zwang mich, auf mich zu schauen und zu fragen: Wo bin ich privilegiert? Um dann andere Minderheiten zu entdecken, mich in ihnen - trotz und wegen der Differenzen - wiederzufinden und solidarisch mit ihnen zu sein. Über ethnische, religiöse und kulturelle Grenzen hinweg. Einzusehen, dass die gemeinsame Diskriminierung nicht per se eint, aber doch eine gemeinsame Basis dafür schafft, Rücksicht und Empathie füreinander zu entwickeln. Dass Deutschtürken nicht gleich Deutschtürken sind, sondern Sunniten, Aleviten, Schiiten, Atheisten, Agnostiker, Kurden, Araber und etliche andere Identitäten - und viele davon häufig gleichzeitig.
Und so gibt es auch Narben, die wir einander hinzufügen.
Eine mitfühlende Stimme
In den letzten Wochen erlebte ich, wie wir scheinbar unkritisch das polarisierte Lagerdenken aus der Türkei hierher nach Deutschland importierten. Dabei machten wir das noch nicht einmal besonders gut. Denn wer genau hinhört, entdeckt auch in der Türkei kluge Stimmen, die sich nicht den Fronten ergeben. Die den Putsch deutlich verurteilen, sich über die verhaltenen Reaktionen westlicher Regierungen und die teils tendenziöse Berichterstattung im Westen empören. Die aber auch souverän und konstruktiv die darauffolgenden Maßnahmen, wie die Inhaftierung von Journalisten, Rechtsanwälten, Lehrern und Wissenschaftlern kritisieren. Oder auch Stellung beziehen, wie beispielsweise in Debatten um die Todesstrafe. So halten auch sie Wache für die Demokratie.
Statt einfach nur zu importieren, könnten wir zumindest versuchen unsere vielfältigen Erfahrungen in die Türkei zu exportieren. Die Ansprüche und Erwartungen, die wir als Minderheiten an unsere Gesellschaft stellen, auch in der Türkei mitdenken: Dass eine Gesellschaft nur so frei und gerecht ist, wie sie es für die Schwächsten und Unterdrücktesten ist. Und dass es die Aufgabe der Mehrheit ist, die Rechte der Minderheit zu wahren und zu schützen. Womöglich könnten wir dabei sogar eine eigene, besonnene, vielfältige und nicht selten in sich zerstrittene Stimme werden. Eine, die nicht mit der Arroganz und dem erhobenen Zeigefinger des Westens daher kommt. Eine, die den eigenen Traumata trotzend, das Leid des Anderen sieht, hört, vertritt und: fühlt.