John Rutter © picture alliance/dpa Foto: Nick Rutter
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AUDIO: Komponist John Rutter: "Ich wollte immer schon singen!" (26 Min)

Komponist John Rutter: "Ich halte Musik für besser als Worte"

Stand: 13.11.2022 13:35 Uhr

John Rutter ist auf seinem Gebiet eine lebende Legende. Der 77-jährige Brite entdeckte früh den Chorgesang für sich, studierte am Clare College in Cambridge und gründete dort seinen eigenen Chor, die "Cambridge Singers".

Sie haben große Messen wie "Mass of the Children", "The Gift of Life" und zahlreiche Weihnachtslieder geschrieben. Was ist für Sie das Besondere daran, für die menschliche Stimme zu schreiben?

John Rutter: Es war einfach das Instrument, mit dem ich selbst angefangen habe. Ich wollte immer schon singen. Als ich vier Jahre alt war, stand in meinem ersten Zeugnis: "John singt gut, wenn er leise singt!" Ich glaube, ich wollte einfach ein wenig angeben. Schon damals. Was mir am Singen so gefiel war, dass es mich mit den anderen Kindern in der Schule zusammenbrachte. Sport zum Beispiel, da war ich richtig schlecht. Beim Singen war es ganz wunderbar, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Ich habe gemerkt, dass, wenn ich meine Stimme einbringe, mehr daraus wird, als die Summe von Einzelteilen. Da geschah etwas Magisches.

Als ich dann in die weiterführende Schule kam, ging es nicht mehr darum, mich in den Schulchor zu locken, die mussten eher kämpfen, um mich fernzuhalten, denn ich wollte immer singen. Und dann war es tatsächlich nur noch ein kleiner Schritt vom Singen zu dem Wunsch, selbst Chormusik zu schreiben. Und das ist bis heute so: Wenn ich Chormusik schreibe, dann fühlt sich das an wie Nachhausekommen.

Lassen Sie uns nochmal kurz zurückgehen zu dieser frühen Chorerfahrung. Mit vier Jahren haben Sie zum ersten Mal in einem Chor gesungen. Wissen Sie noch, was Sie damals empfunden haben?

Rutter: Damals war es in englischen Schulen üblich, den Unterricht mit einer kurzen Andacht zu beginnen, da haben wir dann vielleicht ein Loblied gesungen oder Teile eines Psalms und dann wurde noch Klavier gespielt. Ein kleines Stück aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach, so etwas in der Art. Und genauso hätte der Tag für mich weitergehen können.

Mit dem Singen ist es wie mit dem Schwimmen: Man muss die Gelegenheit bekommen, es auszuprobieren, um festzustellen, ob man es mag oder nicht. Nun gut, ich habe das Schwimmen ausprobiert - und mochte es überhaupt nicht. Näher als beim Duschen möchte ich dem Wasser nicht kommen.

Ich wusste einfach, dass ich das Singen liebte. Das kann ich gar nicht erklären. Es fühlte sich von Anfang an richtig für mich an. Es war einfach von frühester Kindheit an ein Teil meines Lebens. Dass das Singen einmal eine solche Rolle für meine Leben spielen würde, dass ich gar Komponist werden würde, konnte ich nicht ahnen. Das kam dann später.

So viel später kam es aber gar nicht, oder? Das erste Weihnachtslied "Shepherds pipe carol" haben Sie mit etwa 18 Jahren veröffentlicht. Damals haben Sie am Clare College in Cambridge Musik studiert. War da einfach eine Melodie in ihrem Kopf und sie haben gemerkt: Ich kann das aufschreiben und es passt zusammen?

Rutter: Ich würde sagen, es hat mich einfach niemand aufgehalten. Ein großes Glück war auch, dass unser Kapellmeister auf der weiterführenden Schule sehr offen war, was das Komponieren angeht. Er war selbst ein sehr guter Komponist und gab uns allen - also nicht nur mir - das Gefühl, dass Komposition etwas ganz Normales sei. Also dachte ich, na gut, ich habe diese Ideen in meinem Kopf und schreib sie einfach auf. Ich habe alle Arten von Musik geschrieben, aber es waren dann die Weihnachtslieder, auf die dann im Studium ein sehr wichtiger Mentor von mir aufmerksam wurde. Das war Sir David Willcocks, der legendäre Leiter des King's College Choir in Cambridge.

Rutters Mentor: David Willcocks vom King's College Choir

Ich besuchte sein Seminar zu Harmonie und Kontrapunkt, was sich sehr akademisch anhört, und am Ende einer dieser Stunden, sagte er, "Herr Rutter, ich habe gehört, dass Sie bereits komponiert haben, ich würde mich freuen, wenn sie mir etwas zeigen würden." Ich war 19 oder 20, glaube ich, und habe ihm also einige meiner Kompositionen gezeigt, darunter auch Weihnachtslieder und eben der "Sheperd's Pipe Carol". Er war redaktioneller Berater bei Oxford University Press - dem Verlag, bei dem ich bis heute veröffentliche und er sagte: "Möchten Sie, dass diese Musikstücke veröffentlicht werden?" Und ich sagte natürlich: "Ja! Das ist großartig."

Von einem angehenden Komponisten machte ich also den großen Sprung zum veröffentlichten Komponisten. Und das war unglaublich wichtig für mich, denn damals gab es kein Internet, kein Social Media, es gab auch keine Programme, mit denen man seine Musik schreiben und drucken konnte, also war es sehr wichtig, einen Verlag zu haben, denn ohne den hatte man keine Stimme. Es war also ein sehr großes Glück, dass ich jemanden traf, der mir half, zu einem veröffentlichten Komponisten zu werden. Ich bin Cambridge und Sir David Willcocks für diese großartige Chance immer sehr dankbar gewesen.

In einem Interview sind Sie einmal gefragt worden, was Sie zum Komponieren bringt und Sie antworteten: Es ist ein Drang. Nun ist ein Drang ja nicht unbedingt ein sehr positives Gefühl - was also macht Sie glücklich beim Komponieren?

Rutter: Ja, das stimmt schon. Es ist etwas, dem man sich nicht entziehen kann. Das man tun muss. Und der Prozess des Schreibens ist arbeitsintensiv und langsam und, wie ich bereits angedeutet hatte, es ist außerdem recht einsam, denn wenn ich zum Beispiel komponiere, dann möchte ich keine Unterbrechungen oder laute Geräusche. Aber in dem Moment, wenn man die letzte Note geschrieben hat, man das Stück abgeschlossen hat, dann erst fühlt man eine Befriedigung.

Später, wenn man die Musik tatsächlich hört, kommt der eigentliche Lohn der Arbeit. Solange man komponiert, hört man das perfekte Zusammenspiel im Kopf und die Aufgabe des Dirigenten ist es dann, so nah wie möglich an diese imaginären Klänge heranzukommen, die man zuvor im Kopf hatte. Das macht dann richtig Freude und ist auch der Lohn für die Arbeit. Das würde aber natürlich nie passieren, wenn ich vorher nicht diesen Drang hätte. Auf der anderen Seite: Wenn man so lange warten würde, bis man tatsächlich das Gefühlt hat, ja genau, so soll es klingen, und erst dann mit der Arbeit loslegen würde, könnte man lange warten.

Das andere, was einen antreibt beim Komponieren, ist natürlich eine Abgabefrist. Wenn man etwas bis zu einem bestimmten Datum fertigbekommen muss, dann trägt das zur Konzentration bei. Das kann durchaus bedrückend werden, und ich mag das nicht so sehr, wenn eine Abgabefrist dräut. Es kann aber mitunter auch hilfreich sein.

Musik, Gesang, sie können eine große Kraft entfalten. Wie kraftvoll ist die Musik für Sie?

Rutter: Musik hat eine enorme Kraft, die sich sehr schlecht mit Worten beschreiben lässt. Ich bin überzeugt davon, dass Singen eine natürliche Tätigkeit ist, denn die Stimme ist ein Teil des Körpers. Und meiner Ansicht nach drückt die Stimme das aus, was man im Herzen fühlt, das ist das Außergewöhnliche bei der menschlichen Stimme.  

Einmal habe ich mit einem Theologen über Chorgesang gesprochen, der sagte mir, wie schön er es fände, dass Gott Soprane, Altstimmen, Tenöre und Bässe geschaffen hätte, um gemeinsam eine perfekte Harmonie zu bilden. Ich halte Musik für sehr viel besser als Worte und manchmal wünsche ich mir, man könnte unseren Politikern das Singen beibringen. Vielleicht wäre die Welt dann auch harmonischer.

Das Gespräch führte Martina Kothe.

 

Weitere Informationen
John Rutter © picture alliance/dpa Foto: Nick Rutter

Komponist John Rutter: "Ich wollte immer schon singen!"

Im Rahmen des NDR Kultur Chorexperiments gibt John Rutter Einblicke in seine Ideenwelt und die Kraft des Singens. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Das Gespräch | 13.11.2022 | 13:00 Uhr

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