NDR Sachbuchpreis: Ulrike Guérot nicht mehr Teil der Jury
Die Longlist des NDR Sachbuchpreises steht fest, doch bei der Besetzung der Jury hat es Unstimmigkeiten gegeben. Ein Gespräch mit Christoph Bungartz, Leiter der Nominierungskommission.
Da gab es zuerst mal eine ganze Menge zu lesen für die Nominierungskommission, die die Vorauswahl trifft für die eigentliche Jury beim NDR Sachbuchpreis. 145 Bücher wurden von den Verlagen eingereicht. Dazu die Frage an Christoph Bungartz, Leiter der Nominierungskommission: Wie schwer war es, da die besten zehn Titel herauszufinden?
Christoph Bungartz: So richtig leicht war es nicht. Zum Glück war ich nicht alleine. Wir sind mit insgesamt elf Kolleginnen und Kollegen in dieser Nominierungskommission, die die Vorauswahl trifft. Man teilt sich die Arbeit natürlich ein bisschen auf, man bildet Untergruppen und jede dieser Untergruppen wählt ihre Top Ten aus. Dann tragen wir am Ende um die 30 Bücher zusammen, die sich dann alle noch einmal genauer angucken.
Interessant ist schon, dass die Qualitätskriterien relativ gleich sind. Auch wenn es inhaltliche Unterschiede gibt, ist man sich doch einig zu sagen: Nee, es sollen Bücher sein, die für ein breiteres Publikum interessant und verständlich geschrieben sind. Und es sollen Bücher sein, die eine gewisse Relevanz für die Zukunft unserer Gesellschaft haben. Das sind zwei ganz wichtige Kriterien. Dann konnten wir uns am Ende relativ gut mit einer gesunden Mischung auf zehn Titel einigen.
Um welche Themenbereiche geht es in diesen Büchern konkret?
Bungartz: Das sind Themen, die uns natürlich alle im Moment bewegen. Das soll ja auch so sein mit dem Sachbuchpreis, dass wir nicht zu entlegene Themen wählen, sondern Dinge wie Klimawandel oder soziale Gerechtigkeit. Ein Buchtitel heißt "Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich" - ein Satz, der eigentlich ein Skandal in Deutschland ist. Sehr aufschlussreich, was der Autor da an Beispielen zusammengetragen hat.
Grünes Wachstum ist ein Schlagwort, was gerne benutzt wird. Ist das wirklich ein Konzept, mit dem man weiterkommt, nämlich immer weiter wachsen, nur ein bisschen sauberer als bisher? Oder muss man nicht radikaler umdenken? Eine Autorin hat eine sehr interessante Analyse dazu geschrieben.
Oder auch ein Buch über die Welt der Esoterik, über Heilsversprechen unserer Zeit. Wenn man das liest, denkt man: Verdammt noch mal, was gibt es für viele radikale und dunkle Ecken in der Meinungsvielfalt unserer Gesellschaft? Man lernt also auch beim Lesen jede Menge dazu.
Welche Titel sind darüber hinaus noch nennenswert?
Bungartz: Wir haben immer gesagt, historische Titel sind dann gut, wenn sie eine Relevanz für die Gegenwart und die Zukunft haben und wie die Faust aufs Auge passen. In "Das deutsch-russische Jahrhundert" kann man sehr gut nachvollziehen, an welchen Stellen diese beiden Länder aneinander vorbeigeredet und -gelebt haben.
Mit dem Konflikt, den wir jetzt haben, denkt man natürlich im Nachhinein: Aha, da gibt es doch viele Ursachen, die man wahrscheinlich damals übersehen hat, oder offene Wunden Osteuropas. Warum sind so viele osteuropäische Länder so skeptisch bis äußerst kritisch den Russen gegenüber? Warum verstehen wir so wenig davon? Und man fragt sich manchmal: Muss es eigentlich immer einen Krieg geben, bis es so weit ist, dass wir uns wirklich für einander interessieren?
Ein Thema, was mir auch besonders gut gefallen hat, ist ein Buch, wo wir zuerst dachten: Was soll das denn? "Fritz, der Gorilla" heißt das Buch. Die Autorin Jenny von Sperber hat im Nürnberger Tiergarten einen Gorilla gesehen, der sie angestarrt hat. Und dieser Blick - der hat sie nicht mehr losgelassen. Es ist ein Buch entstanden, das zum einen die Geschichte dieses Gorillas nacherzählt: Wie ist er in den Zoo gekommen, wo kommt er her? Es ist aber auch ein Buch über Zoohaltung geworden und darüber, wie wir mit den Tieren umgehen, wie Mensch und Tier miteinander umgehen. Aus dem konkreten Beispiel ist ein großes biologisches Buch geworden.
Die Nominierungskommission hat also zehn Titel vorausgewählt. Nun nimmt die Jury ihre Arbeit auf, um den Siegertitel zu ermitteln. Bei der Besetzung der Jury hatte es Unstimmigkeiten gegeben - was war da los?
Bungartz: Es gab eine Unstimmigkeit, weil der NDR unter anderem Ulrike Guérot zur Mitarbeit in der Jury eingeladen hatte und diese Entscheidung vor ein paar Tagen wieder zurückgenommen hat.
Ulrike Guérot ist eine meinungsstarke Professorin und Buchautorin, die sich sehr kritisch über die Corona-Politik, aber auch die Ukraine-Politik der Bundesregierung geäußert hat und nach wie vor äußert.
Das war aber nicht der Grund.
Im NDR war übersehen worden, dass ihr von der Presse und der wissenschaftlichen Community schon vor einiger Zeit vorgeworfen wurde, nicht immer nach wissenschaftlichen Standards zu arbeiten.
In der gesellschaftlichen Auseinandersetzung muss sie ihre Stimme erheben können, sie tritt ja auch in öffentlich-rechtlichen Talkshows auf. Aber in einer Jury zusammen mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sind die Vorwürfe der unwissenschaftlichen Arbeit keine gute Voraussetzung. Das hätte im NDR früher auffallen müssen - das ist bedauerlich.
Das Gespräch führte Jan Wiedemann.