Das Klavier als Abenteuerspielplatz: Marina Baranova

Stand: 18.04.2024 10:34 Uhr

Aufgewachsen ist Marina Baranova in einem klanglichen Abenteuerspielplatz: ihre Mutter unterrichtete Klassik, der Vater Jazz. Bei NDR Kultur EXTRA gibt die Pianistin einen sehr persönlichen Einblick in ihr Schaffen. Ein Gespräch.

Wenn die Persönlichkeit eines Menschen wie ein Mosaik ist, dann setzt sich dieses bei Marina Baranova aus besonders vielen, bunten und leuchtenden Steinen zusammen. Geboren wurde sie im ukrainischen Charkiw, seit ihrem 19. Lebensjahr lebt sie in Hannover. Aber Baranovas eigentliche Heimat ist schon immer die Musik gewesen. Als Tochter eines Pianisten-Ehepaares machte sie noch vor ihrer Geburt Bekanntschaft mit dem Instrument, das ihr Leben bis heute begleitet. Bei NDR Kultur EXTRA stellt sie unerwartete musikalische Bezüge her und gibt einen sehr persönlichen Einblick in ihr Schaffen.

Marina Baranova, du komponierst rekomponierst, improvisiert - und manchmal auch alles auf einmal. Ich glaube, dir ist es ziemlich egal, wie man es nennt. Du machst vor allem Musik.

Marina Baranova: Genau so ist es. Mich inspiriert der Kontext und dann gehe ich entweder improvisatorisch oder kompositorisch weiter.

Was hat es mit dem Titel des neuen Album "White Letters" auf sich?

Baranova: "White Letters" hat mit meiner Herkunft zu tun. Ich bin eine in der Ukraine geborene Jüdin und mit 19 Jahren nach Deutschland gekommen. Das alles ist irgendwie ganz spannend, weil ich in der Ukraine eine Jüdin war, hier in Deutschland war ich lange Zeit eine Ukrainerin und in Israel war ich immer eine Deutsche.

Deine Eltern haben dir damals in der Ukraine verboten zu erwähnen, dass du Jüdin bist. Das prägt sicher auch die Identität, wenn man von klein auf erfährt, ich erwähne das besser nicht.

Baranova: Das haben meine Eltern aus Schutz verboten, weil der Antisemitismus in der Ukraine sehr groß war - und vielleicht auch noch ist. Deshalb habe ich mich bis zu meinem 19. Lebensjahr gar nicht getraut zu sagen, dass ich Jüdin bin. Interessanterweise erst, als ich nach Deutschland kam. Der Begriff "White Letters" stammt von einem Rabbiner. In den heiligen Schriften - oder vielleicht bei uns auch in den Noten - gibt es immer weißes Papier und schwarze Buchstaben. Wir nehmen immer die schwarze Schrift als essenziell wahr. Der Rabbiner sagte, eigentlich ist das nur die halbe Wahrheit. Denn man muss auch diesen Platz zwischen den Buchstaben wahrnehmen.

Die Pianistin Marina Baranova © Berlin Classics Foto: Felix Broede
AUDIO: Das Klavier als Abenteuerspielplatz: Marina Baranova (55 Min)

Du kommst aus Charkiw, aus der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Eine große Metropole mit 42 Universitäten, ein Ort der Kultur. Du bist aber seit 20 Jahren dort nicht mehr gewesen. Hast du noch Kontakte dorthin? Wie ist die Situation vor Ort?

Baranova: Ich habe interessanterweise wieder Kontakt aufgenommen. Um hier anzukommen, musste ich mich irgendwann entscheiden: Bin ich gedanklich in der Ukraine oder bin ich in Deutschland? Ich habe versucht, die Kontakte abzubrechen und hier anzukommen: Deutsch zu lernen und mich zu integrieren. Deshalb hatte ich lange Zeit gar keinen Kontakt in die Ukraine. Mit dem ersten Tag des Kriegsausbruches habe ich Kontakte zu meinen Lehrern und zu Klassenkameraden aufgenommen. Ich habe viele hier nach Deutschland holen können. Seitdem bin ich im täglichen Kontakt. In Charkiw habe ich nach wie vor sehr viele Freunde. Interessanterweise wurde auf diese Weise meine Vergangenheit zur Gegenwart. Ich habe mich mit meinen Klassenkameraden hier in Deutschland nach 20 Jahren getroffen. Als wäre gar keine Pause dazwischen gewesen.

Du bist 19 Jahre alt gewesen, als du nach Hannover gekommen bist. Dort lebst du immer noch. Du kommst aber aus einem Pianisten-Haushalt, der dir ganz unterschiedliche Facetten mitgegeben hat, die sich in deiner Musik wiederfinden. Wie musste man sich dein Zuhause vorstellen? Es war eine Art musikalischer Abenteuerspielplatz, oder?

Baranova: Das war es tatsächlich. Wir hatten in Charkiw eine kleine Wohnung, aber in jedem Zimmer stand ein Klavier. In einem Zimmer hat meine Mutter klassische Musik unterrichtet, was auch sehr gut zu ihrer Persönlichkeit passte. In einem anderen Zimmer hat mein Vater Jazz-Improvisation unterrichtet, was auch zu seiner Persönlichkeit passte, weil er sich auf jedes musikalische Abenteuer einließ. Ich durfte als Kind nur das Zimmer wechseln und dann ist eine neue Welt mit anderen Wegen aufgegangen, trotzdem war alles unter einem Dach. Symbolisch gesehen, sehe ich das immer noch. Musik ist ein großes Haus mit dünnen Wänden dazwischen, und man kann das Zimmer wechseln, aber es ist eben ein großes Haus und alles passiert unter einem Dach. Deshalb ist es für mich ganz wichtig, dass ich die Türen offen lasse.

Das Gespräch führte Philipp Cavert.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur EXTRA | 17.04.2024 | 13:00 Uhr

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