Cover des Buches "Der chinesische Paravent" von Nicola Kuhn. © dtv Verlag

Kolonialismus in deutschen Wohnzimmern: Woher stammen Erbstücke?

Sendung: Der Morgen | 05.04.2024 | 07:20 Uhr | von Rügemer, Kerry
3 Min | Verfügbar bis 05.04.2025

Inspiriert hat Nicola Kuhn der titelgebende chinesische Paravent, den sie von ihrem Urgroßvater geerbt hat.

"Meine Mutter hat tatsächlich immer die Geschichte erzählt, es sei ein Geschenk des Kaisers von China an ihren Großvater gewesen. Umso älter ich wurde, umso weniger konnte ich mir das natürlich vorstellen", berichtet die Autorin. "Auch der Anruf bei meinem Onkel hier in Hamburg brachte zutage: 'Du musst wissen: Dein Urgroßvater hat die deutschen Truppen im Boxerkrieg in China proviantiert - das hat heute einen haut goût, also einen schlechten Beigeschmack'."

Nicola Kuhn fängt an, in der Familiengeschichte zu graben. Ihr Urgroßvater Carl Bödiker galt bis dahin als erfolgreicher Hamburger Kaufmann, der wie viele andere ein Geschäft in der damaligen deutschen Kolonie Tsingtau in China betrieb. Wie er tatsächlich an den wertvollen Paravent kam? Keiner weiß es mehr. "Die Tatsache, dass dieser Paravent, oder dass dieses Textil nur ein halbes ist - es ist nur ein Drache darauf zu sehen -, deutet auf einen Gewaltzusammenhang hin", berichtet Kuhn. "Es könnte sein, dass er aus dem Boxerkrieg beziehungsweise aus der anschließenden Plünderung stammt, die durch die alliierten Armee durchgeführt wurde."

Plötzlich erscheint der Urgroßvater in einem völlig neuen Licht: "Es sind nicht mehr die Heldengeschichten, es sind nicht mehr die Abenteuer, es ist auch nicht mehr die Exotik, die da mit ins Wohnzimmer kommt, sondern es sind auf einmal auch die Verbrechen des Kolonialismus. Man muss sich schon die Frage stellen: Welche Rolle hat mein Urgroßvater gespielt?"

Wie Nicola Kuhn geht es vielen. Zartes Porzellan aus dem fernen China, ein Speer oder Hocker aus Afrika, Elfenbeinschnitzereien - alles seit Anfang des letzten Jahrhunderts in Familienbesitz. Elf Geschichten solch kolonialer Gegenstände erzählt sie in ihrem Buch. Mit der Herkunft, der Provenienz vieler Objekte vor allem in ethnologischen Häusern, beschäftigen sich die Museen bereits seit einiger Zeit. Relativ neu ist das Thema im privaten Bereich - und es bewegt viele Menschen. Die Lesung ist jedenfalls rappelvoll. Und nicht wenige sehen plötzlich geerbte Familienstücke mit anderen Augen.

Für Geraubtes aus der NS Zeit gibt es längst Provenienzforschungen in vielen Museen - bei kolonialem Erbe, zumindest im privaten Bereich, mangelt es bislang daran. Die Frage nach Unterstützung bei der Recherche durch Experten bewegt die Besucher ganz besonders an diesem Abend. Denn was macht man, wenn man einen solchen Gegenstand erbt?

"Das ist gar nicht so einfach", sagt Kuhn. "Aber ich würde sagen: Sich einfach an die ethnologischen Museen wenden und fragen - und vielleicht entsteht genau durch diesen Druck, der dadurch aufgebaut wird, eine Stelle, an die man sich offiziell wenden kann, denn das ist etwas, das fehlt. Was ich gerne anstoßen würde, ist, dass privaten Besitzern da auch eine Hilfestellung gegeben wird."