Ein Mann schaut in die Kamera. © Volkstheater Rostok Foto: Glover

Über Verführung und Verführbarkeit: Theaterintendant Ralph Reichel

Stand: 04.10.2023 08:07 Uhr

Ob mit Schauspiel im ehemaligen Stasi-Gefängnis oder großem Weihnachtssingen im Ostseestadion - das Volkstheater Rostock lockt mit ungewöhnlichen Formaten. Es geht um Verführung und Verführbarkeit. Ein Essay des Rostocker Intendanten.

von Ralph Reichel

Unser Theater will Begegnungsraum sein. Wir erweitern bewusst unser Angebot um Festivalformate, um Late-Night-Formate, wir gehen zu den Bürgern und laden sie auch in unsere Kantine ein, die seit einem Jahr von 10 bis 24 Uhr öffentlich ist. Wir singen zu Weihnachten im Ostseestadion gemeinsam mit über zehntausend Gästen Weihnachtslieder. Wir bieten Erlebnisse und den Austausch. Dieses Miteinander halten wir für einen notwendigen Kern einer demokratischen Gesellschaft, die immer wieder neu das Zusammenleben diskutieren und entwickeln muss.

Von Macht und Gewalt

Leitmotivisch zieht sich in der Spielzeit 2023/24 die Verführung und die Verführbarkeit durch Premieren im großen Haus: In Georges Bizets "Carmen" gerät ein einander liebendes und verführendes Paar in den Abgrund der Tragödie. Zu welchen Konsequenzen zementierte Machtverhältnisse und deren permanenter Missbrauch führen können, zeigt Jean-Paul Sartre in seinem zum modernen Klassiker gewordenen Stück "Die schmutzigen Hände". Hier wird das unbarmherzige Denken totalitärer Systeme ausgestellt und seine Mechanismen entlarvt. Sartre, der mit dem Versprechen des Paradieses auf Erden liebäugelte, rechnet hier mit dem Stalinismus, auch mit seiner eigenen politischen Biografie ab. Im momentan viel gespielten Stück [BLANK] wirft die britische Dramatikerin Alice Birch einen schonungslosen Blick auf die Entstehung von Gewalt.

"Nosferatu" barrierearm ohne gesprochene Sprache

Künstlerisches Neuland betritt das Volkstheater mit dem Stück "Nosferatu", das ohne gesprochene Sprache über die Bühne geht. Das Theater öffnet sich damit für Personen, die bisher entweder durch Einschränkungen oder die Sprachbarriere vom Theatergenuss ausgeschlossen waren und erprobt so Formate für barrierearme Produktionen.

Mobile Bühne kommt zu den Menschen

Mit einer mobilen Bühne, die in kürzester Zeit an den unterschiedlichsten Spielorten aufgebaut werden kann, bringen wir Kultur in die Region, egal ob Marktplatz, Gemeinschaftszentrum, Bauernhof oder Stadtpark. So erreichen wir Menschen, die sonst aus ihrem Stadtviertel oder ihrer ländlichen Gemeinde nicht den Weg ins Theater fänden.

Mit der Einführung einer zwei Spielzeiten dauernden Studio-Produktion in Kooperation mit der Hochschule für Musik und Theater Rostock wollen wir Exzellenzförderung betreiben und dem Nachwuchs Erfahrungen unter realen Bedingungen eines großen Theaterbetriebes bieten. Für das Theaterensemble entstehen so eine dauerhafte und strukturelle Zusammenarbeit sowie ein inhaltlicher Austausch mit dem künstlerischen Nachwuchs, der auch das gleichaltrige Publikum mitbringt. Inhaltlich und physisch.

Stadtgeschichte und Zeitgeschichte: Theater im ehemaligen Stasi-Gefängnis

Mit Formaten wie dem spartenübergreifenden Projekt "Gesänge aus der Gefangenschaft", welches im ehemaligen Stasi-Gefängnis aufgeführt wird, begibt sich das Theater zudem an Orte, die für die Hanse- und Universitätsstadt Rostock emotionale Erfahrungsräume sind und ermöglicht eine kulturelle Reflexion der eigenen Stadtgeschichte. Bei solchen Projekten arbeiten wir auch sehr bewusst mit Künstler:innen aus der Stadtgesellschaft zusammen, erreichen so eine stärkere Verbundenheit und Glaubwürdigkeit.

Weitere Informationen
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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 15.09.2023 | 16:15 Uhr

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Theater

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