Manfred Wildhage sitzt in einer Sprecherkabine mit Headset © NDR Foto: Michael Brandt

Theater für Sehbehinderte: Staatstheater hilft mit Audiodeskription

Stand: 26.01.2023 10:35 Uhr

Nur ein Dutzend Theater in ganz Deutschland bieten Audiodeskription für blinde Menschen zu Aufführungen an. Eines davon ist das Staatstheater Braunschweig - und das schon seit etwa zehn Jahren.

von Michael Brandt

Etwa 20 Besucherinnen und Besucher stehen im Foyer des Staatstheaters. Alle sind blind. Sie freuen sich auf ihren Theaterbesuch am Sonntagnachmittag. Denn so eine Audiodeskription wie heute gibt es nur etwa zehn Mal pro Jahr. Ellen Brüwer vom Staatstheater organisiert das barrierefreie Angebot. Nun gibt sie Stoffproben der Kostüme herum: "Sie hören, das ist Taft, das raschelt so richtig, wenn man es bewegt."

So fühlt sich also das Kleid an, das Elisabeth trägt - die Königin von England. "Maria Stuart", Schillers Klassiker, wird heute aufgeführt. Aber vorher kommen viele Fragen aus der Gruppe. So auch von Felizitas Dietz. Die 88-Jährige aus Ilsede bei Peine ist blind und mit ihrem Sohn extra für diesen Theaternachmittag angereist. Der Bühnenrundgang ist trotz Audiodeskription wichtig, erklärt sie: "Man weiß ja nicht, was noch auf der Bühne rumwuselt. Deswegen wollte ich mal wissen, ob da viele Menschen drauf sind oder wenig - oder es können ja Diener drauf sein oder Zofen oder was auch immer."

Audiodeskription macht Unsichtbares sichtbar

Ellen Brüwer beschreibt das Bühnenbild eine Gruppe von Besuchern auf der Bühne © NDR Foto: Michael Brandt
Ellen Brüwer organisiert das barrierefreie Angebot und beschreibt den Besuchern das Bühnenbild.

Dafür ist den blinden Menschen auch der schmale Weg auf die Bühne nicht zu viel. Manfred Wildhage hilft seinem Publikum auf die Bühne: "So jetzt kommt die Stufe und jetzt bitte einmal geradeaus weiter. Wir gehen nun durch die Katakomben des Theaters." Der pensionierte Schulleiter wird heute die Audiodeskription sprechen.

Er macht das sichtbar, was auch Dagmar Krause aus Braunschweig nicht sehen kann. Mit zwölf Jahren war sie erblindet: "Ich bin erst seit es diese Audiodeskription gibt, überhaupt eine Theatergängerin geworden. Vorher konnte ich dem gar nicht folgen, dem gar nichts abgewinnen. Ich fand das langweilig und wusste gar nicht, um was es so richtig geht."

Passende Lücke für die Beschreibung finden

Manfred Wildhage sitzt in einer Sprecherkabine mit Headset © NDR Foto: Michael Brandt
Gar nicht so einfach für Manfred Wildhage in einer Sprecherkabine eine passende Lücke im Stück für seine Beschreibungen zu finden.

Mit Wildhages Beschreibungen klingt das dann so: "Es wird dunkel im Saal. Wir sehen eine riesengroße rote Eins. Erster Aufzug. Projiziert auf den durchsichtigen Vorhang." Auch die Figuren beschreibt er: "Paulet trägt einen dreiteiligen Anzug. Sehr edel, dunkle, schwarze Brille. Kurze Haare, rechts gescheitelt." Aber Timing sei dabei gefragt, um nicht zu penetrant über die Dialoge und Monologe der Schauspielerinnen und Schauspieler zu sprechen: "Das ist manchmal nicht ganz einfach, immer dann, wenn es lange Dialoge oder Monologe gibt."

Opern mit langen Arien seien da einfacher, sagt Wildhage. Trotzdem müsse er immer die passenden Lücken finden. Und auswählen, was er in den wenigen Sekunden beschreibt: "Ich mache das Ganze live. Das heißt, ich habe keine zweite Chance. Das glaube ich, ist die größte Herausforderung." Denn was er nicht beschreibt, das bleibt für sein blindes Publikum für immer verborgen.

Lebhafte Theaterszenen auch für blinde Menschen

Der pensionierte Englisch- und Geschichtslehrer gibt sich daher viel Mühe. Ehrenamtlich im Wechsel mit einem Kollegen. Ein dickes Heft mit vielen Notizen bringt er mit in seine Sprecherkabine. Bei spannenden Szenen steht er auf. Empfindet beim Sprechen die Gestiken der Schauspielerinnen und Schauspieler nach. Wildhage beschreibt die letzte Szene: "Sie zieht am Vorhang. Der Vorhang fällt herunter - über sie. Maria ist tot." Ende des letzten Akts.

Nach fast drei Stunden auch für Wildhage: "Eine Audiodeskription, zumal bei Maria Stuart von Schiller, ist super anstrengend, weil ich die ganze Zeit hochkonzentriert arbeiten muss." Nur so entstehe am Ende ein lebhaftes Bild auch für blinde Menschen. Manchmal sei er danach schon klitschnass geschwitzt, sagt der 67-Jährige - aber das sei es ihm wert: "Im Kern geht es darum, den Sehbehinderten Menschen etwas zu ermöglichen. Das macht mir Spaß." Sein blindes Publikum dankt es ihm.

 

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 26.01.2023 | 16:00 Uhr

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