"Iphigenia"-Premiere im Thalia Theater: Alter Mythos, neu erzählt
Es ist die uralte Geschichte von Täter und Opfer: "Iphigenia". Der antike Mythos nach Euripides und Goethe hatte gestern Abend als neues Stück im Hamburger Thalia Theater Premiere. Die Hauptrolle teilten sich eine Tochter und ihre Mutter.
Am Ende steht der Flügel in Flammen. Daran sitzt Iphigenia, die Pianistin mit den gebrochenen Fingern, und wirft einen scheuen Blick ins Publikum. Dann geht das Licht aus. Man könnte auch sagen: Die Regie hat das Ensemble ziemlich allein gelassen. Denn tatsächlich steht hier kein wirkliches Ensemble auf der Bühne, sondern jeder und jede hat einen eigenen Spielstil, großes Drama, privater Improvisationston und feines Stilett.
Ich möchte wirklich mal wissen, ob uns die Zärtlichkeit retten wird an dem Tag, an dem Bangladesch überschwemmt wird. Zitat aus "Iphigenia"
Iphigenia-Mythos neu erzählt
Regisseurin Ewelina Marciniak und ihre Autorin Joanna Bednarczyk haben den Mythos von Iphigenia neu erzählt. Hier geht es eben nicht darum, dass Agamemnon, der Kriegsherr der Griechen, in den Krieg nach Troja ziehen will, und - weil er keinen Wind hat -, dafür seine geliebte Tochter Iphigenia opfert.
Was sehen wir hier? Eine typische Familie! Zitat aus "Iphigenia"
Agamemnon ist hier ein Ethikprofessor, der gerade an einem Buch über Täter und Opfer schreibt, in elegantem Schwarz. Seine Ehefrau Klytaimnestra ist Schauspielerin, sein Bruder Menelaos ist ein unangenehm schmieriger Anwalt, der seine Nichte Iphigenia über zehn Jahre sexuell missbraucht hat. Iphigenia ist eine angehende Starpianistin, die sich am Ende die Finger einzeln bricht. Rosa Thormeyer in der Hauptrolle berührt.
Ich war fünf Jahre alt, als ich zu spielen anfing. Zitat aus "Iphigenia"
Dem Publikum gefällt das: "Sehr bedrückende Situationen, die toll dargestellt worden sind" und "Es war toll umgesetzt, es hat mich begeistert."
Bekannte Opfergeschichte aus einer neuen Sichtweise
Mythos und modernes Familien-Drama haben aber wenig miteinander zu tun - bis auf die bittere Tatsache, dass Iphigenia, hier wie dort, ein Opfer männlicher Gewalt ist.
All die Jahre hast du ausdauernd auf meine Hände geschaut, während dein Bruder etwas ganz anderes angeschaut hat: meine Scham. Zitat aus "Iphigenia"
Die Grundidee ist klug: Die Opfergeschichte wird aus einer rein weiblichen Perspektive erzählt und verdoppelt. Iphigenia in jung wird von Rosa Thormeyer gespielt und - raffiniert! - ihr 20 Jahre älteres Alter Ego von der eigenen Mutter Oda Thormeyer. Sie muss leider die erste Hälfte des Stückes wie ein Schatten über die Bühne schreiten. Erst im letzten Viertel besetzt sie das Zentrum. In der Inszenierung ist das aber ein einziger großer Bruch, der im Publikum kritisiert wird: "Am Anfang war das ganz großartig, aber es war wie ein Break, der in meinen Augen nicht nötig war" und "Man hatte den Eindruck: Jetzt ist Schluss, und dann war das so ermüdend!"
Endlose Umbaupause im Thalia Theater
Ein Technikteam baut die Bühne gefühlte Stunden lang um, während Stefan Stern als Pausenfüller aus seiner Menelaos-Rolle heraustritt und vorne am Bühnenrand über Missbrauch in der Familie und ihre Darstellung auf der Bühne referiert: "In Menelaos erkennen wir uns wieder und haben deshalb kein Mitleid mit ihm - und das ist gut. Er verdient kein Mitleid." Leider ist das eher langweilig. Das Ganze findet einfach nicht zusammen: Zur Abwechslung parkt die Regie das Ensemble in hübsche pseudo-antike Tableaus und poppige Tanzszenen.
Vor allem: Das Stück hat überhaupt kein Geheimnis, es hat keine Doppelbödigkeit, alles wird ausgesprochen:
Es leben so viele traumatisierte Menschen hier in diesem Haus. Zitat aus "Iphigenia"
Zweiter Teil enttäuscht
Im Publikum gibt es ähnliche Meinungen zum zweiten Teil der Inszenierung: "Der Anfang gut, der Schluss eher nicht" und "Das war zum Teil unverständlich, völliger Klamauk, gemischt mit langen Reden" oder "Ich habe den ersten Teil eigentlich sehr gut gefunden und wenn es dann zu Ende gewesen wäre, wäre es ein gelungener Theaterabend gewesen."
Wenn dann am Schluss der hohe Ton der Tragödie auf die Bühne gewuchtet wird, dann will man das einfach nicht mehr ernst nehmen. Das Thema Missbrauch sprengt den Mythos und lässt nur Scherben übrig.
"Iphigenia"-Premiere im Thalia Theater: Alter Mythos, neu erzählt
Der antike Mythos nach Euripides und Goethe hatte gestern Abend als neues Stück Premiere. Die Hauptrolle teilten sich Tochter und Mutter.
- Art:
- Bühne
- Datum:
- Ende:
- Ort:
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Thalia Theater
Alstertor
20095 Hamburg - Preis:
- ab 7 Euro
- Hinweis:
- Regie: Ewelina Marciniak
Dramaturgie: Emilia Linda Heinrich, Joanna Bednarczyk
Mit:
Rosa Thormeyer (Iphigenia)
Oda Thormeyer (Iphigenia)
Christiane von Poelnitz (Klytaimestra)
Sebastian Zimmler (Agamemnon / Toas)
Jirka Zett (Achill / Orestes)
Lisa-Maria Sommerfeld (Helena)
Stefan Stern (Menelaos)
Anton Pirx Dvořák, Karl Friedrich Dvořák (Orestes, alternierend)