"Die Philosophie des modernen Songs": Bob Dylan denkt und schreibt
Viele halten Bob Dylan für einen der größten Songschreiber unserer Zeit. "Die Philosophie des modernen Songs" heißt sein aktuelles Buch. Darin denkt der Musiker über Songs und ihre Bedeutung nach.
"In diesem Song bist du der verlorene Sohn. Gestern Abend bist du in Detroit City zu Bett gegangen. Hast dir über deine Mutter Gedanken gemacht, deinen alten Papa vor dir gesehen. Jetzt willst du wieder nach Hause, dorthin zurück, wo es nachbarschaftlicher zugeht. Dein Leben geht in die Binsen. Du warst zu lange auf der dunklen Seite." So fasst Bob Dylan den Song "Detroit City" von Bobby Bare zusammen.
Eine traurige Abrechnung mit dem Großstadtleben, das nur ins Verderben führt, während es auf dem Lande gemächlicher und menschlicher zugeht. Die Story könnte mühelos einen dicken Roman füllen. Bobby Bare hat sie 1963 in weniger als drei Minuten erzählt. Dylan interpretiert Song und Botschaft schnoddrig-lakonisch: "Der Hörer weiß, dass diese Welt gar nicht existiert. Das Mädchen, von dem der Sänger träumt, ist längst mit einem Scheidungsanwalt verheiratet und hat drei Kinder mit ihm bekommen. Deshalb funktioniert der Song." Bäm! Nach drei Seiten Text - die trockene Pointe. Nächster Song.
Breites Panorama bei Dylans "philosophischen Songs"
Es ist ein staunenswert breites Panorama, das Dylan hier entfaltet: 66 Kapitel über 66 Songs, und nur die wenigsten davon dürften seinem Publikum vertraut sein. Gut, "Strangers In The Night", "Tutti Frutti" und "Black Magic Woman" hat fast jeder mal gehört. Doch wer kennt auch nur einen einzigen Song von Webb Pierce oder Tommy Edwards? Eddy Arnold, Johnny and Jack oder - um wenigstens eine Frau zu nennen – Rosemary Clooney? Eben. Kaum jemand.
Für Bob Dylan jedoch, den rastlosen Erforscher der amerikanischen Song-Tradition, sind die Country-, Folk-, Pop- und Rock’n’Roll-Sänger der 50er-Jahre wichtige Bezugsgrößen. Den Buchtitel sollte man daher mit Dylans Augen lesen. "Moderne Songs" heißt für ihn nicht: aus den letzten 10 Jahren. Er meint damit Songs der 40er- bis 60er-Jahre, ein paar jüngere vielleicht noch - im Gegensatz zu Songs aus dem 19. Jahrhundert oder aus noch tieferer Vergangenheit.
Hier und da kleine Weisheiten
Und diese "Moderne Songs" enthalten eine "Philosophie"?, mag sich mancher Leser fragen. Wäre es beim Titel nicht auch eine Nummer kleiner gegangen? Nicht für Dylan, der einmal gesagt hat: "Ich finde die Religion und die Philosophie in der Musik. Die Songs sind mein Lexikon. Ich glaube an die Songs." Was lehren sie ihn also, den Großmeister des Songwriting? Nicht die reine Wahrheit, das wäre vermessen. Aber manche kleine Weisheit, hier und da.
Über "My Generation" von The Who sagt Dylan: "Wir fluchen alle über die vorangegangene Generation, wissen aber, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir uns selbst in sie verwandeln." Und zu Elvis Presleys "Money Honey" - ein Song, in dem sich alles ums fehlende Geld dreht - fällt dem Autor eine Geschichte ein: "Vor einer Weile aß ich mit einem Freund zu Abend, der kurz zuvor seine Frau verloren hatte. Er sagte etwas, worüber ich eine Weile nachdenken musste: 'Das alles bedeutet sowieso nur etwas, weil es endet.' Anders als Diamanten und Gold war die gemeinsame Zeit mit seiner Frau wirklich endlich. Und er wusste jeden Augenblick davon zu schätzen." Das ist tatsächlich Lebensphilosophie, die beeindruckend prägnant in guten Songs stecken kann.
Niedecken liest Hörbuch wie ein Märchenonkel
Es darf aber bezweifelt werden, ob BAP-Sänger Wolfgang Niedecken als Vorleser des Hörbuchs eine gelungene Wahl ist. Die Märchenonkeligkeit seines Vortrags führt weit weg von Dylans Erzählton. Selber lesen ist da sicher besser.
Dylan plaudert, assoziiert und monologisiert in dieser Essaysammlung, ist hier schroff, dort einfühlsam; und nicht all‘ seinen Überlegungen lässt sich gleich gut folgen. Aber an jeder Stelle kann eine Leserin, kann ein Leser seine Gedanken aufgreifen, um ihnen zuzustimmen oder auch vehement zu widersprechen – auf jeden Fall laden sie dazu ein, selbst weiterzudenken über gute Songs und das Wissen, das in ihnen steckt.
Die Philosophie des modernen Songs
- Seitenzahl:
- 352 Seiten
- Zusatzinfo:
- Aus dem Amerikansichen von Conny Lösch
- Verlag:
- C.H.Beck
- Veröffentlichungsdatum:
- 02.11.2022
- Bestellnummer:
- 9783406792847
- Preis:
- 35,00 €
