NDR Buch des Monats März: "Der heutige Tag" von Helga Schubert

Stand: 15.03.2023 10:00 Uhr

Die Schriftstellerin Helga Schubert hat ein sehr persönliches Buch darüber geschrieben, wie es ist, den eigenen Mann zu pflegen. Ihr neues Werk "Der heutige Tag" ist das NDR Buch des Monats und erscheint am 16. März.

von Lenore Lötsch

Es gibt ihn auch in diesem Buch - den Schubert-Moment. Er beginnt mit der Beschreibung einer Alltäglichkeit. Die Ich-Erzählerin greift zum Glas mit der Aufschrift "Champignons, in Scheiben, einfach lecker". Doch das geöffnete Glas duftet eigentümlich. Und es enthält etwas viel Köstlicheres: Quittengelee. Irgendjemand hat es ihr irgendwann geschenkt, aber das Etikett nicht abgekratzt, keine Schleife darum gebunden, keine Inhaltsbeschreibung in Schönschrift verfasst, sondern das Gelee pragmatisch ins Glas kleckern lassen und auf den Tisch gestellt. Und die Erzählerin erkennt: Mit dieser Haltung zu geben, liegt ihr fern.

Denn ich erwarte Dankbarkeit. Da geht es schon los. Ich erwarte mir gegenüber Dankbarkeit... Und genauso schleppte ich also seit Jahren unzutreffende und unerfüllbare Erwartungen mit mir herum wegen der falschen Beschriftung unserer Lebensumstände mit dem Etikett Familie oder Patchworkfamilie. Leseprobe

 

Helga Schubert erzählt vom Ausatmen eines Lebens

Wie viel duftendes, süßes Quittengelee in diesem Leben und in diesen Erzählungen eines Paares steckt, das wird auf jeder der 270 Seiten klar: Ob es um Blasenkatheter geht oder die 25 Tabletten, die die Erzählerin ihrem Mann jeden Tag zuteilt, ob um das gemeinsame Frühstück im Wintergarten oder das Händestreicheln am Abend. Hier schreibt eine, die ihren Mann liebt und pflegt. Und das hat man so noch nie gelesen. Hier erzählt eine vom Ausatmen eines Lebens.

Auch jetzt, als alte Frau, dachte ich plötzlich, habe ich ja noch richtige Lebensaufgaben zu lösen: Es geht nämlich um das Loslassen, das Annehmen, es geht um das Friedenschließen, das Einverstandensein, um das nicht dauernd den andern, sich und das Leben Ändernwollen. Leseprobe

Aber Helga Schubert packt ihr Leben nicht in eine Erzählung, gespickt mit Durchhaltesätzen fürs Poesiealbum des pflegenden Angehörigen. Sie erzählt von den vielen Versuchen, bezahlbare Pflegerinnen zu finden, wenn sie zu einer Lesung eingeladen ist. Von ihrer Erschöpfung, wenn ihr Mann ihr verwirrt am 18. Februar "Frohe Weihnachten" wünscht und es feiern möchte, dabei hat sie die Deko doch gerade erst verstaut. Ein Pfleger rät ihr, bei all ihren Worten darauf zu achten, dass sie mit Liebe gesprochen werden. Nicht ständig zu korrigieren, nicht zu belehren. Und dann ist eben auch am 18. Februar noch einmal Weihnachten mit voller Festbeleuchtung. Es ist eine Verbindung, für die Individualität nicht das Maß aller Dinge ist. "Wir haben immer so viel zusammen gelacht, hatten einen ähnlichen Humor und haben politisch ähnlich gedacht, auch in der DDR-Zeit", erinnert sich Helga Schubert. "Ich war mit diesem Mann ganz nah, immer. Das auszuhalten, dass jemand plötzlich weggeht, in eine andere Welt, dass man immer versucht, ihn in dieser Welt zu halten und dass man überlegt: Soll ich ihm dahin folgen? Also, ich komme ja wieder zurück, wenn ich will."

Weitere Informationen
Helga Schubert: "Vom Aufstehen" © dtv

NDR Buch des Monats März 2021: "Vom Aufstehen"

In "Vom Aufstehen" erzählt Helga Schubert kurze Episoden über sich, ihre Mutter und ein Jahrhundert deutscher Geschichte. mehr

Sie nennt ihn Derden in diesem Buch. Und es wirkt, als sei alles auf ihn bezogen. Er ist der, den sie liebt. Vor 66 Jahren sind sie sich zum ersten Mal begegnet. Er war ihr Professor, er wurde ihr Geliebter, da waren beide noch verheiratet. Mit 30 beschließt sie - sie hat gerade Ingeborg Bachmann gelesen -, dass ihr das Zusammenleben mit einem verheirateten Mann nicht genügt. Sie stellt ein Ultimatum und es dauert, bis er sich für sie entscheidet.

Nichts ist vergessen, keine Demütigung, keine Einsamkeit, kein wohliges Versinken im Orgasmus. Alles wie gerade erlebt. Leseprobe

Helga Schubert: "Ich rette mich durch das Schreiben"

Und dann, am Ende dieses gemeinsamen Lebens, drängen die anderen, ihn gehen zu lassen, weil das, was das Leben ausmacht, doch nicht so aussehen kann. Jeden Abend geht sie in ihre Schreibstube: "Ich rette mich durch das Schreiben. Ich würde es sonst überhaupt nicht aushalten", erklärt Schubert.

An diesem Schreibtisch kann Helga Schubert Verzweiflung in lebenskluge Ermutigung verwandeln. Wer ihr Buch liest, wünscht sich selbst eine solche Altersliebe, die nach Quittengelee duftet; da, wo alle anderen säuerliche Champignons, dritte Wahl, sehen. Ein Lebensbuch, vom beginnenden Ende an erzählt.

Das NDR Buch des Monats im Programm

Die NDR Kultur Redaktionen von Radio, Fernsehen und Online wählen jeden Monat ein belletristisches Buch aus, das besonders gut zu Norddeutschland passt. NDR Kultur sendet die Rezension am 8. Mai 2023, 06.40 und 12.40 Uhr, NDR Info um 10.55 Uhr. Im Kulturjournal des NDR Fernsehens ist der Beitrag am 8. Mai 2023, 22.45 Uhr zu sehen.

Der heutige Tag

von Helga Schubert
Seitenzahl:
272 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
dtv
Bestellnummer:
978-3-423-28319-9
Preis:
24 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 13.03.2023 | 06:40 Uhr

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