Stand: 20.03.2018 10:00 Uhr

Im Schatten des Krieges

von Natascha Freundel

Seit vier Jahren herrscht Krieg im Osten der Ukraine. Ein Krieg, der von der ukrainischen Regierung "Anti-Terror-Operation" genannt wird und von dem die russische Regierung behauptet, er sei ein innerukrainischer Konflikt, ein Bürgerkrieg.

Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan lebt im ostukrainischen Charkiw und ist mit Büchern wie "Die Erfindung des Jazz im Donbass", mit seinen Gedichten und Essays, aber auch mit seiner Band "Zhadan i Sobaki" ein Kultautor. Sein neuer Roman "Internat" handelt vom Krieg. Die Übersetzung von Sabine Stöhr und Juri Durkot ist in der vergangenen Woche mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden.

Literarische Annäherungen an den Krieg

Serhij Zhadan ist nicht mehr der junge Wilde der ukrainischen Literatur, der die jugendliche Freiheit an irgendeinem gottverlassenen Steppenbahnhof hymnisch wie kein zweiter zu beschreiben wusste. Schon sein Roman "Mesopotamien" von 2015 ist ein zutiefst melancholisches Porträt seiner Stadt Charkiw und ihrer Bewohner, die im Schatten des nahen Kriegs leben.

Zhadans jüngste Bücher sind Protokolle seiner literarischen Annäherung an diesen Krieg. "Warum ich nicht im Netz bin" erschien 2016 mit Gedichten und Tagebuchtexten, die von seinen Reisen in das Kriegsgebiet erzählen. "Laufen ohne anzuhalten" ist eine atemberaubende Novelle über die Rastlosigkeit eines Mannes, der zum Kriegsdienst eingezogen wird und nun "Internat", ein Roman, der seine Figuren und seine Leser nicht mehr aus dem Krieg entlässt.

In diesem Winter sind die Bäume irgendwie besonders: Wachsam wie Tiere erzittern sie bei jeder Explosion, behalten ihre Wärme bei sich, kühlen nicht aus, beheizen schwarze kreisförmige Vertiefungen um sich herum, in denen das alte Gras grün dunkelt. Die Rinde ist feucht und schutzlos - du berührst sie und befleckst dich mit ihrem dunklen Schmerzenssaft wie mit Farbe, wie mit Blut aus Schnittwunden. Leseprobe

Gelungene Übersetzung und intensive Metaphern

Den Krieg vor Augen führen - das gelingt dem Autor und dem Übersetzerpaar Sabine Stöhr und Juri Durkot mit intensiven Metaphern. "Verlassene Checkpoints" gleichen da "geplünderten Vogelnestern", "Maulbeerbäume" sind "schwarz wie Zeitungsschlagzeilen" und "Soldaten purzeln zu Boden wie reife Äpfel ins feuchte Gras". Serhij Zhadan führt uns in eine zutiefst unheimliche Landschaft hinein, die wir so noch nie gesehen haben. Feuchtigkeit, Kälte, Nebel beherrschen alles - und mittendrin Pascha: 35 Jahre, Lehrer für Ukrainisch, Brillenträger, alles andere als ein Held.

Er mischte sich nicht ein, und als die Schüler ihn baten, ein Urteil zu fällen, redete er sich mit einem Scherz heraus und brachte die Sprache auf die Hausaufgaben. Das geht euch nichts an, ihr habt zu lernen. Aber sie lernten schlecht. Und benahmen sich schlecht. Beachteten Pascha einfach nicht. Einmal, als es besonders nah knallte, versuchte Pascha sie aus der Klasse heraus in den Schutzraum zu führen, wie er sagte. Sie lachten ihn aus, klebten an den Fenstern und suchten im Himmel den Rauch. Pascha stand da, scharrte mit den Füßen und ging dann allein in den Schutzraum. Leseprobe

Drei lange, schreckliche Tage beschreibt Serhij Zhadan. Drei Tage, in denen Pascha versucht, seinen Neffen aus dem Internat zu holen, in welches die Schwester ihren Sohn entsorgt hat und das auf der anderen Seite der schwankenden Frontlinie liegt. Was ein Besuch in der Nachbarschaft sein könnte, wird ein Gang entlang verminter Felder, durch ausgebombte Wohnhäuser, über Hänge, die geradewegs ins Totenreich zu führen scheinen, dabei werden sie verfolgt von herrenlosen, hungrigen Hunden.

Das Internat als Metapher

Serhij Zhadan verleiht dem Krieg im Donbass mythologische Dimensionen. Das ist kein Nebenschauplatz, das ist der Hades, zeigt er - und findet zugleich eine ganz realistische Sprache für die Ungewissheiten dieses Kriegs. Wer kämpft da eigentlich gegen wen - und wofür? Auch das Internat ist eine Allegorie:

Wir leben hier doch alle, wenn man es recht überlegt, wie im Erziehungsheim, im Internat. Von allen verlassen, aber geschminkt. (…) Warum spreche ich eigentlich mit meinen Schülern nie über so etwas. Diktiere ihnen diese ganzen Scheißdiktate (…) Bringe ihnen bei, fehlerfrei zu sprechen. Aber einfach nur zu reden, so, dass sie gehört und verstanden werden - das bringe ich ihnen nicht bei. Ich kann es ja selbst nicht. Leseprobe

Serhij Zhadan kann es. Er hat - auf Ukrainisch - den bislang wohl wichtigsten Roman über den Krieg in seiner Heimat geschrieben, ohne Ideologie, ohne Vereinfachungen und voller unvergesslicher Bilder.

Internat

von Serhij Zhadan, übersetzt von Sabine Stöhr und Juri Durkot
Seitenzahl:
300 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Suhrkamp Verlag
Bestellnummer:
978-3-518-42805-4
Preis:
22,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 21.03.2018 | 12:40 Uhr

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Romane

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