Lesung: Angelika Klüssendorf und Anne Rabe in Cismar
Die fünfte Lesung der Herbsttour von "Der Norden liest" führte nach Cismar. Dort trafen Angelika Klüssendorf und Anne Rabe aufeinander. Sie repräsentieren mit ihren Werken zwei Generationen von Frauen und deren Erfahrungen mit der DDR.
Zwei Frauen, zwei Generationen, zweimal DDR-Erfahrung, zweimal Autofiktion und beide auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023: Angelika Klüssendorf wurde 1958 geboren, kam mit drei Jahren nach Leipzig und übersiedelte 1985 nach Westdeutschland. Ein Jahr später wurde Anne Rabe in Wismar geboren, heute lebt sie als Dramatikerin, Drehbuchautorin und Essayistin in Berlin. Faszinierend bei beiden das literarische Können, individuelle Schicksale in den Horizont geschichtlicher Entwicklungen zu stellen.
Von den Preußen über die Nazis bis zur DDR-Erziehung: Wo gab es Kontinuitäten im Erziehungsstil der DDR? In "Das Mädchen" erzählte Klüssendorf 2011 von einer durch Alkohol und Gewalt zerrütteten Kindheit. In "Risse" kehrt die Autorin nun zu diesem Mädchen zurück. In zehn Geschichten entfaltet Angelika Klüssendorf ein Kinderleben in der DDR in den 60ern und 70ern, geprägt von Ungeborgenheit und Sehnsucht. Nach dem Tod der geliebten Großmutter muss das Mädchen Übergriffen und Teilnahmslosigkeit begegnen. Es ringt darum, seine Eltern auszuhalten und zu verstehen und die Schwester zu beschützen. "Wenn ein Buch die Axt für das gefrorene Meer in uns sein muss, wie Kafka sagt, dann ist für mich eines davon 'Risse' von Angelika Klüssendorf. Warum? Weil sie ihren Figuren und uns eine Suche nach dem Abgrund in sich selbst zumutet - eine Suche, die schmerzt und Mitgefühl ermöglicht. Ich bewundere sie dafür." (Corinna Harfouch)
Um die psychischen Verletzungen eines Kindes geht es auch in Anne Rabes Debüt "Die Möglichkeit von Glück". Andreas Platthaus bezeichnet den Roman in der FAZ als "Antidot zur grassierenden DDR-Nostalgie". Gegenüber der Berlin Zeitung sagt die Autorin über ihre Hauptfigur: "Die Fragen, die Stine umtreiben, sind Fragen, die auch ich mir gestellt habe. Als ich nach Berlin kam, merkte ich bei westdeutschen Freunden, dass sie Nazis zum Beispiel gar nicht erkannten. Erst mit Pegida entstand eine Sensibilität für Codes und Symbole, die bei den Demos und im Umfeld gezeigt wurden. Als 2019 die AfD bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen jeweils die zweitmeisten Stimmen erhielt, war man schockiert. Untersuchungen wie die Leipziger Autoritarismus-Studie zeigen, dass im Osten im Gegensatz zum Westen vor allem junge Leute die AfD wählen. Mich hat beschäftigt, wo das herkommt und warum das bleibt." Die Geschichte der DDR als Gewaltgeschichte? Klüssendorf und Rabe kommen diesem Thema über ihrer Literatur sehr nahe.
Eine Veranstaltung der Reihe "Der Norden liest" von NDR Kultur. Unter der Schirmherrschaft der Stiftung Lesen. In Kooperation mit dem Verein "Literatur im Weißen Haus", der Büchereizentrale Schleswig-Holstein und dem Literaturhaus Schleswig-Holstein.