Buchcover von Andreas Tiedes Buch "Einspruch nicht vorgesehen - eine Autobiografie zwischen klerikalem Missbrauch und Waffendienstverweigerung in der DDR" © Tredition

"Einspruch nicht vorgesehen": Klerikaler Missbrauch in der DDR

Stand: 10.01.2024 06:00 Uhr

Die Sicht auf Missbrauch in der Kirche - bis heute ist das ein Thema, das polarisiert. Der Autor Andreas Tiede will sich nicht den Mund verbieten lassen. Um sein Buch ist eine Auseinandersetzung entstanden.

von Alexa Hennings

Im Mai 2023 brachte Andreas Tiede sein Buch heraus. Der Titel: "Einspruch nicht vorgesehen - Eine Autobiografie zwischen klerikalem Missbrauch und Waffendienstverweigerung in der DDR". Es ist die erste Veröffentlichung eines Betroffenen aus Mecklenburg -Vorpommern, in der Orte und Namen genannt, Missbrauch und die Folgen für das ganze Leben beschrieben werden.

Kirche als Schutzraum gegen die Zumutungen eines autoritären sozialistischen Staates

Als Kaplan Krüger ihn sexuell bedrängte, war Andreas Tiede 16 Jahre alt - und es war erst der Anfang.

Durch die vielen Möbel in dem kleinen Zimmer war es sehr eng. Ich wollte mich gerade an ihm vorbeischlängeln, als er mich plötzlich umarmte, mich an sich zog und fest an sich drückte. Sein überraschender Zugriff traf mich wie ein Schlag. Lesung von Andreas Tiede

Der Autorenname ist nicht Andreas Tiedes richtiger Name, sondern der, den er in der Öffentlichkeit benutzen möchte. Denn das Buch fordert Zuspruch und Ablehnung zugleich heraus. In einer Lesung in der katholischen Gemeinde in Ludwigslust schildert er seinen Lebensweg. Für ihn, 1951 in Rostock geboren, war die katholische Kirche Heimat und zugleich Schutzraum gegen die Zumutungen eines autoritären sozialistischen Staates. Die Treue zu Mutter Kirche, die ihm anerzogene Achtung der Würdenträger, der Glaube an Freundschaft und Gemeinschaft machten es ihm lange unmöglich, sich von seinem Peiniger, dem Vikar und späteren Kaplan Krüger, zu befreien. Versuche, bei kirchlichen Autoritäten bis hin zum Bischof Hilfe zu bekommen, scheiterten ebenso wie sein Berufswunsch, Priester zu werden.

Zuspruch und Gegenwind

Der heute 72-Jährige wollte all das nicht nur für sich verarbeiten und aufschreiben, sondern auch öffentlich machen. "Man hört sonst nur sehr wenig, man hört, dass es Missbrauch gegeben hat, viele können sich nichts darunter vorstellen", sagt Andreas Tiele. "Ich versuche, die Leute mitzunehmen, mit in mein Leben hineinzunehmen. Erstmal zu sagen: Wie kam es dazu? Ich versuche, meine Emotionen zu beschreiben: Was hat das mit mir gemacht? Was hat das in mir kaputt gemacht? Da ist mir, muss ich sagen, bei den Veranstaltungen ausnahmslos eine sehr große Empathie entgegengekommen."

"Ich habe mitgelitten - die ganze Zeit. Aber dass er da so rausgekommen ist, trotzdem sein Leben und immer wieder die Kraft gefunden hat - puh", sagt eine Besucherin einer Lesung. "Es ist schon mutig, sich öffentlich zu bekennen in der Situation. Er muss ja vielleicht auch Konsequenzen fürchten, Anfeindungen vielleicht im Nachhinein", fügt ein Besucher hinzu.

Polemische Anfeindungen und kritische Auseinandersetzungen

Von Anfeindungen kann nicht nur der Autor berichten. Auch German Schwarz hat sie erfahren. Der Theologe und Polizeiseelsorger leitet das Thomas-Morus-Bildungswerk Mecklenburg-Vorpommern. Weil er die Lesungen mit Andreas Tiede in katholischen Gemeinden des Landes organisierte, gab es zum Teil heftige Reaktionen: "Sehr polemisch, auch aggressiv - das war schon grenzüberschreitend, fand ich. Das, was man so neudeutsch Shitstorm nennt, hatte ich noch nie erlebt", berichtet Schwarz. "Die Mails, Briefe, nicht nur an mich, auch an den Rostocker Pfarrer, der ja in Rostock eine Veranstaltung mit geplant hat. Dass man aufgerufen hat, die Veranstaltung muss verboten werden, das ist ein Nestbeschmutzer. Und immer wieder die Forderung, wir müssen einen Schlussstrich ziehen. Das war eine Gemengelage, die erschreckend war", erzählt der Theologe weiter.

Einer, der sich kritisch mit dem Buch auseinandergesetzt hat, ist Georg Diederich von der Katholischen Gemeinde in Schwerin. Er hat sich in Leserbriefen - beispielsweise in der Schweriner Volkszeitung, wo Tiedes Buch besprochen wurde - gegen öffentliche Lesungen des Buches ausgesprochen. So wollte er nicht, dass Andreas Tiede in der Schweriner Gemeinde liest. Georg Diederich war Leiter des Heinrich-Theissing-Instituts für Kirchengeschichte in Schwerin. Theissing war in jener Zeit Bischof, als Andreas Tiede unter Kaplan Krüger zu leiden hatte. Beide, Theissing und Krüger, sind inzwischen verstorben. Nach langem Zögern informierte der damalige Priesteramts-Student Tiede damals seinen Bischof über die Übergriffe.

"Überall ist eine Intention von Herrn Tiede zu bemerken, hier etwas auszusagen über den Bischof, was diesen ins Abseits stellt. Das trifft aber nicht zu", findet Diederich. "Heinrich Theissing war einer von den wenigen Bischöfen, die sehr konsequent gehandelt haben, wenn so etwas gewesen ist. Das hat er auch in diesem Fall gemacht. Ich kann es jetzt aber nicht belegen, denn ich bin nicht der Herr dieser personenbezogenen Akten. Das muss Herr Tiede machen oder der Bischof muss die Akten freigeben."

Kein Handeln im Sinne des Opferschutzes

Andreas Tiede liegen seine kirchlichen Akten vor - er fand darin keinerlei Anhaltspunkte, dass Bischof Theissing in seinem Fall im Sinne des Opferschutzes gehandelt hat. "Er hätte mir Schutz zusagen müssen, er hätte untersuchen müssen, was vorgefallen ist, er hätte erst einmal von mir einen Bericht fordern oder erbitten müssen, dass ich genau sage, was ist passiert. Dann hätte er mit dem Täter oder mit Leuten, die es eventuell gemerkt haben, sprechen müssen und irgendwelche Maßnahmen einleiten müssen", sagt Tiede. Das habe Theissing damals jedoch nicht gemacht. "Das war damals schon, als das passiert ist, in der Kirche eine Vorschrift, das kanonische Recht. So, und nun komme ich auf den Plan und zerstöre das Heiligenbild von Herrn Theissing, was Herr Diederich hat. Das wird viel damit zusammenhängen, dass er sich da so dahinterhängt, um mich irgendwie zu diskreditieren", so Tiede.

Andreas Tiede schreibt in seinem Buch, dass der Bischof Theissing Kaplan Krüger besonders gefördert hätte. Noch nachdem der Bischof von den Vorfällen in Kenntnis gesetzt worden sei, wurde der Kaplan, inzwischen Pfarrer der Wismarer Gemeinde, zum Dechanten gewählt und stand damit mehreren Pfarreien vor. Der Bischof bestätigte ihn in diesem Amt. Ein neuer Karriereschritt in der kirchlichen Hierarchie. Georg Diederich widerspricht allerdings der Behauptung, der Bischof habe den Kaplan besonders gefördert: "Der Bischof hat den Krüger in keiner Weise besonders gefördert. Das ist meine Feststellung, nachdem ich das geprüft habe. Ich habe das Buch mindestens dreimal gelesen und die Akten, die mir zur Verfügung standen, auch."

Warum entsteht Widerstand gegen jene, die über Missbrauch in der Kirche sprechen wollen?

Die Einwendungen von Georg Diederich schätzt German Schwarz vom Thomas-Morus-Bildungswerk so ein: "Das ist aus meiner Sicht eine gewisse Ablenkung vom eigentlichen Thema. Es geht einfach um Versagen, auch von kirchlichen Strukturen. Und das sehe ich in dem Buch auch abgebildet." Doch Diederich sagt: "Die Situation, über die ja geredet wird, dass der Herr Krüger Herrn Tiede praktisch missbrauchen wollte - wollte - nicht vergessen! -Das ist ganz wichtig in dem Falle: Er war Gott sei dank immer so stark, dem zu widerstehen. Das mindert nichts an der Tat, die Krüger da begangen hat. Aber ich will bloß sagen: Es ist nicht zum Missbrauch gekommen. Also, der wurde nicht ausgeführt."

Es gab gar keinen Missbrauch? Situationen wie die eingangs geschilderte erlebte Andreas Tiede mehrmals mit dem Priester. Er fühlte sich ihm ausgeliefert - nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Wenn die Sensibilität fehlt und nur eine vollzogene Vergewaltigung als Missbrauch angesehen wird, dann erklärt das nicht nur das Verhalten von kirchlichen Würdenträgern vor 60 Jahren. Es erklärt auch, warum sich bis heute Widerstand bildet gegenüber jenen, die über Missbrauch reden wollen. Allen, die Andreas Tiede gern den Mund verbieten wollen, kann German Schwarz nur eines entgegenhalten: "Einerseits kann ich es verstehen, diese Dauerschleife von Missbrauch - immer die Bistümer, die nacheinander kommen - dass Leute irgendwann nicht mehr hinhören wollen. Aber wir haben als Kirche und als religiöse Menschen einfach auch die Pflicht, diesen Betroffenen von sexualisierter Gewalt zuzuhören."

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Einspruch nicht vorgesehen

Seitenzahl:
350 Seiten
Verlag:
Tredition
Veröffentlichungsdatum:
5.6.2023
Preis:
29,90 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Kulturjournal | 09.01.2024 | 19:05 Uhr

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