Buchcover: Anders Petersen - Café Lehmitz © Schirmer/Mosel Verlag

"Café Lehmitz": Bildband über Hamburger Kneipe neu aufgelegt

Stand: 13.11.2022 06:00 Uhr

Der Bildband gilt längst als Klassiker der Milieufotografie. Es ist eine magische und fragile Schönheit, die Anders Petersens Bilder zeigen. Das Porträt einer Welt, die so nicht mehr existiert.

von Alexandra Friedrich

Der Schwede Anders Petersen war Teenager, als er Anfang der 60er-Jahre erstmals Hamburg besuchte. Er geriet zufällig ins Café Lehmitz, eine Kaschemme am Zeughausmarkt, nahe der Reeperbahn. Diese verruchte Parallelwelt faszinierte ihn so sehr, dass er nach seinem Fotografie-Studium in Stockholm dorthin zurückkehrte. 1968 begann er, die Gäste zu porträtieren - zumeist Sexarbeiterinnen, Zuhälter, Kleinkriminelle, Alkoholiker. Drei Jahre nahm er sich dafür Zeit. 1978 wurden seine Schwarz-Weiß-Fotografien erstmals in Buchform veröffentlicht. Der Bildband gilt längst als Klassiker der Milieufotografie, war aber lange vergriffen. Jetzt gibt es eine Neuauflage - mit einem prominent verfassten Vorwort.

Tom Waits und Anders Petersen: Geistesverwandte

Anders Petersen hat das Auge eines Poeten. Wie wäre es sonst möglich, beim Anblick seiner Bilder Lili Marleen aus einer verbeulten Klarinette zu hören oder Bockwurst mit Tiparillo-Rauch und kaputtem Klo zu riechen? Leseprobe

Tom Waits entdeckt Anders Petersen 1985, erkennt in dem Schweden einen Geistesverwandten, einen "Fährtenleser", wie sich selbst. Darum wählt er eine seiner Schwarz-Weiß-Fotografien als Cover für sein Album "Rain Dogs".

Das Bild zeigt Rose, einen jungen Wilden mit Tolle und Tätowierungen auf dem nackten Oberkörper. Die Augen genuss- und vertrauensvoll geschlossen, schmiegt er sich an die Brust von Lily. Die Brünette umschließt ihn fest und lacht aus vollem Halse, wirft den Kopf in den Nacken und reißt den Mund so weit auf, dass wir ihre unebenen Zähne sehen.

Café Lehmitz: Geborgenheit für leichte Damen und schwere Jungs

"Lily and Rose" wird zur Ikone, nicht nur durch Tom Waits. Das Foto, das auch den Titel des Bildbands ziert, bringt auf den Punkt, was das Café Lehmitz für seine Gäste bedeutet hat: Geborgenheit.

Geborgenheit, die nach schallendem Gelächter klingt, nach Schweiß und kaltem Rauch riecht, die schmeckt wie billiger Fusel und sich anfühlt wie ein weicher mütterlicher Busen. Das finden im Café Lehmitz jene, die am Rand der Gesellschaft stehen: leichte Damen und schwere Jungs, Trinker und Transvestiten.

Anders Petersen: "Ich möchte Kontakt mit Menschen haben"

"Export-Inge! Blumen-Paul! Elfriede! Hertha! Zwerg! Nanni! Gretel! Spinner-Rudi! Und die anderen! Und alle in einem Boot. Weggestoßen. Ausgestoßen. Verheizt. Verglüht. Schrott. Wegwerfmenschen. Nicht mehr zu gebrauchen. Kapitalistischer Müll!" Leseprobe

Der Journalist Roger Anderson liefert den Begleittext zu den Bildern von Anders Petersen. Ein Fotograf, der nicht urteilt über die abgebildeten Menschen, sich nicht über sie stellt, sondern offenes Interesse, sogar Zuneigung zu ihnen zeigt.

"Ich möchte Kontakt mit Menschen haben", sagt Anders Petersen. "Ich möchte sie anfassen, fühlen, hören. (…) Ich habe damals bei Lehmitz die Menschenwürde deutlich gespürt. Ich hoffe, dass meine Bilder es zeigen."

Anders Petersen ist mittendrin. Kein Voyeur mit Teleobjektiv, kein "Elendstourist" oder Sozialpornograf, der Mitleid oder Abscheu erzeugt.

Trotzdem verheimlicht oder beschönigt er nicht. Wir sehen ältere, zahnlose Frauen, die ihre schlaffe Haut vor der Kamera entblößen. Wir sehen die eingefallenen Wangen, die blutunterlaufenen und glasigen Augen der Säufer. Wir sehen verzweifelte Küsse und gierige Berührungen.

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Bilder von fragiler Schönheit

Aber Anders Petersen zeigt auch die ausgelassenen Tänze, liebevollen Gesten und vor allem die direkten Blicke, die tief berühren und noch tiefer blicken lassen. Sie erzählen von Schicksalsschlägen und Scheitern, aber bisweilen auch von Träumen und Hoffnung.

Da ist dieses Porträt einer Frau, Typ Marlene Dietrich, mit blonden Bob, aparten Gesichtszügen und einem nur angedeuteten, wissenden Lächeln. Sie fasst sich ins gelockte Haar und schaut in die Kamera, herausfordernd, erhaben, mit einer entwaffnenden Ehrlichkeit und Direktheit, die vielen Bildern von Anders Petersen innewohnt.

Er hält lebendige Momente fest, die uns anstarren. Er zog einen Hut aus dem Kaninchen, mit dem Photo eines frisch gebrochenen Herzens, oder würde es gleich brechen? Leseprobe

Es ist eine magische und fragile Schönheit, die Anders Petersens Bilder zeigen. Das Porträt einer Welt, die so nicht mehr existiert. Sankt Pauli wird mehr und mehr zum hippen Szene-Viertel und wo einst Pummel, Cherry, Wermut und Mutti soffen und schwoften, tanzen und trinken heute die Party-Touristen. Das alte Café Lehmitz aber bleibt unvergessen - dank Anders Petersen.

Café Lehmitz

von Anders Petersen
Seitenzahl:
112 Seiten
Genre:
Bildband
Zusatzinfo:
Mit einem Vorwort von Tom Waits
Verlag:
Schirmer/Mosel
Bestellnummer:
978-3829609593
Preis:
29,80 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 13.11.2022 | 16:20 Uhr

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