Singapur Korrespondentin Lena Bodewein steht vor dem Ayers Rock in Australien © NDR Foto: Lena Bodewein

Wieso ich trotz Zeitenwende Deutschland nicht gegen die Tropen tausche

Stand: 12.11.2022 06:00 Uhr

Nach sechseinhalb Jahren als ARD-Korrespondentin in Singapur ist Lena Bodewein nach Hamburg zurückgekehrt. Ein Schritt, der ihr nicht leichtgefallen ist, aber viele Erkenntnisse brachte.

von Lena Bodewein

Puuuh, hatte ich Sorge vor der Rückkehr - nach sechseinhalb Jahren in Singapur, nach sechseinhalb Jahren südostasiatischer Leichtigkeit, Sonne und Buntheit, Höflichkeit, Exotik und auch digitalen Fortschritts. Was erwartet uns in Deutschland?

Ein Land in der Krise, ein Land, das friert, innerlich wie äußerlich - so schien es uns zumindest nach dem, was uns aus deutschen Medien dort hinten in Singapur erreichte: Die Fachblätter für Doom and Gloom, besonders ein bestimmtes Wochenmagazin, orakelten, was die Schreibstuben der Apokalypse so hergaben. Das Dunkel schien sich auszubreiten in den Herzen und in den Heimen, ein Winter des Missvergnügens schien bevorzustehen. Ich habe am Ende kaum noch deutsche Zeitungen gelesen, so sehr hat mich dieses Heraufbeschwören des Unheils geängstigt.

Die Sorge vor dem Rückkehrschock

Nicht zuletzt lauerte neben der neuen Krise ja noch die alte Muffeligkeit, die uns in Deutschland erwartete. Und überhaupt die Fremdheit, die eigene, nach all der Zeit - passen wir da noch rein? Wie wird der Alltag werden?

Als Korrespondentin zurückzukehren, das gehört ja zu diesem Beruf; vor elf Jahren war es New York gewesen, und da war die Heimkehr heftig: Kurz vor Geburt des Kindes hatte ich ein Existenzkarussell bestiegen - an einem Tag war ich noch Korrespondentin für Vereinte Nationen, Kultur und Lifestyle in New York, plus Kanada, hatte am Union Square mittenmang in Manhattan gelebt - am nächsten Tag schob ich als Muddi den Kinderwagen über die Deiche von Finkenwerder.

Gerade weil ich diese Erfahrung schon einmal gemacht habe, war die Sorge vor dem erneuten Rückkehrschock also da.

Zurück in Deutschland: Von wegen Servicewüste

Aber diesmal ist alles anders. Ich fühle mich wie eine neugierige Touristin im eigenen Land, die mit offenen Augen auf eine ebenso offene Gesellschaft schaut - und staunt: Der heißeste, schönste Sommer begrüßt uns, die freundlichsten Menschen, die sich freuen, nach einer - vermeintlich überstandenen - Pandemie wieder draußen miteinander Zeit zu verbringen, zu feiern, zu lachen. Ich entdecke hiesige Bräuche, die mir jedoch genauso fremd und exotisch scheinen wie der Auftritt buntgewandeter Tempeltänzerinnen in Thailand: die Trachten der Finkwarder Speeldeel, die plattdeutschen Lieder, der Männergesangverein in Fischerhemden, der Handarbeitskreis, der dicke Socken aus Seemannsgarn verkauft.

Na klar gibt es auch das Erwartete, Stichwort Muffeligkeit, muss ich mich doch beim Arzt anraunzen lassen, dass meine Gesundheitskarte schon längst abgelaufen ist. Mein Personalausweis ist auch nicht mehr gültig - ja, Entschuldigung, beides hat mir in den vergangenen Jahren keinerlei Dienste leisten können, also ist beides in der Tasche geblieben und heimlich, still und leise abgelaufen. Aber beim Kundenzentrum der Stadt kann ich mir online Termine holen, und noch nie (!) habe ich dann bei diesen Terminen länger als zwei Minuten gewartet. Irre. Von wegen Servicewüste.

Üppige Produktvielfalt, erschwingliche Preise

Mit großem Vergnügen gehe ich einkaufen - ja, ich weiß, die Preise sind gestiegen, Inflation und Shrinkflation, die Energiekrise lässt einige Supermärkte eine Stunde früher schließen. Aber trotzdem: Für uns ist das Einkaufen nach wie vor ein Quell des Entzückens. Denn noch freuen wir uns über die Preise: In Singapur haben zehn Bio-Eier umgerechnet acht Euro gekostet, zwei Liter Biomilch zwölf Euro, ein lächerlich kleiner Bio-Brokkoli sechs Euro. Die Zeit dort hat mich gelehrt, dass günstige Lebensmittel nicht selbstverständlich sind, sondern ihren Wert haben.

In Deutschland gibt es Biolebensmittel im Discounter zu halbwegs erschwinglichen Preisen, es gibt eine geradezu verwirrende Vielfalt an Produkten, noch dazu mit vegetarischen und veganen Alternativen - selbst Grünkohl wird jetzt von fleischfreiem Pinkel begleitet -, laktosefrei, plastikfrei und nachhaltig. Wenn gewünscht mit extra viel Proteinen oder extra wenig Kohlenhydraten. Chips sind jetzt nicht mehr nur aus gewöhnlichen Erdäpfeln, sondern aus Gemüse, Süßkartoffeln, Erbsen, Linsen, Cashew, eigentlich allem, was wächst, so scheint mir.

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Eine Reihe von Uhren steht in einem leeren Fabrikgebäude. Eine zeigerlose Uhr ist frontal zu sehen. © Roberto Agagliate / photocase.de Foto: Roberto Agagliate

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Überhaupt: Essen und Natur. Ich staune über die Üppigkeit - hatte ich doch gedacht: An Mango, Ananas, Rambutan, frisch vom Baum in den Tropen, da kommt nichts ran!

Weit gefehlt. Brombeeren, dunkelsaftig, sonnenbeladen, frisch vom Strauch, mit zerkratzten Fingern den dornigen Ranken entrissen und zu Marmelade gekocht. Himbeeren, letzte satte Erdbeeren, dann bald Birnen und Äpfel, die überreif vom blauen weiten norddeutschen Himmel zu fallen scheinen, selbst wenn es nur von alten Bäumen auf hohen Deichen ist. Erntezeit allerorten. Jetzt beherrschen Kürbisse die Speisekarten und Hausdekorationen, es ist orange und gelb, und das Laub ist es auch und rot und grün. Alles ist bunt in diesem Herbst und gar nicht so grau, wie ich es befürchtet hatte. Im Wald raschelt das Laub unter den Füßen, das die Bäume in großer Geste mit Wind und Rauschen abwerfen. Um sich - eigentlich - für den Winter zu rüsten.

Der Wechsel der Jahreszeiten, das ist etwas sehr Schönes, was mir im ewigen tropischen Sommer mehr gefehlt hat, als ich dachte.

Krieg und Wetterkatastrophen sind in Europa angekommen

Doch diese Jahreszeiten verändern sich in erschreckender Weise so stark, dass wir am 1. November noch im T-Shirt draußen sitzen können. Niemand kann die Klimakrise mehr leugnen. Das, worüber ich als Korrespondentin vor Jahren noch aus der Südsee oder vor allem Australien berichtet habe, Wetterextreme, Stürme, verheerende Überschwemmungen, Sturzfluten, Dürren, als das für "uns" in Europa noch weit weg schien -, all das ist jetzt hier angekommen, mit Waldbränden und vertrockneten Feldern oder fürchterlichen Fluten.

Dazu gibt es einen Krieg in Europa! Auch hier ein ähnliches Phänomen: Wir haben von Singapur aus über den tobenden Bürgerkrieg in Myanmar berichtet, immer wieder über Terror, Anschläge und Unruhen in Thailand oder auf den Philippinen - aber dass es in Europa wieder geschieht, das war schwer zu glauben. Der Schrecken und das Leid sind fürchterlich, doch die Reaktionen in Deutschland sind mutmachend: Die Menschen stehen zusammen, rücken zusammen, nehmen Fliehende auf; Solidarität zeigt sich an allen möglichen Orten: Bibliotheken machen ukrainische Lesestunden, blau-gelbe Fahnen hängen in den Fenstern, die Busse der öffentlichen Verkehrsbetriebe fahren mit dem Aufruf "Stoppt den Krieg" in der Richtungskennung herum.

Viel Bereitschaft, Vorurteile auf den Kopf zu stellen

Ja, die Deutschen haben auch Angst und fürchten sich davor, dass der Krieg noch näherkommt, dass es gar zu einer atomaren Eskalation kommt - aber sie begegnen dieser Angst, sie reden darüber. Sie trösten sich. Es scheint eine natürliche Angst und ein natürlicher Umgang damit. Und das ist, trotz des Zusammenhangs, wunderbar, vor allem, wenn man aus einem Land kommt, in dem Angst institutionalisiert wird: Singapur scheint seine Bevölkerung mit der Angst vor allen möglichen Bedrohungen, zum Beispiel vor Terrorismus, manipulieren zu wollen. "Nicht ob (Terroristen zuschlagen), sondern wann", "not if but when" ist die Frage, mit der immer neue Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen gerechtfertigt werden - in einem Land, das von China die Gesichtserkennung übernimmt und seine Bewohner mit zig Kameras überwacht.

Das gibt es in Deutschland nicht, es ist ein freies Land, es gibt Presse- und Meinungs- und Demonstrationsfreiheit, ja - jeder Hornochse kann auf die Straße gehen und protestieren, für oder gegen irgendwelchen Schwachsinn. Ist nervig - aber wir dürfen das, und das ist richtig!

Deutschland ist soooo diskussionsfreudig, jeder hat eine Meinung zu allem und äußert sie auch, allein zum Thema Gendern - hätte ich nie für möglich gehalten: Ich sehe Stellengesuche, "Ausbildungsplatz Mechatroniker, männlich/weiblich/divers", vor sechs Jahren noch undenkbar.

Es gibt so viel Bereitschaft, Vorurteile auf den Kopf zu stellen.

Deutschland: Ein Land, in dem sich unglaublich viel bewegt

Auch wenn immer wieder eine Spaltung der Gesellschaft geradezu herbeibeschworen wird - das negative Grundrauschen kann ich als Neuankömmling noch ausblenden. Und das kann ich jeder und jedem, m/w/d empfehlen: Einmal wie ein Tourist im eigenen Land zu stehen. Und dann ein Land zu sehen, in dem sich unglaublich viel bewegt, ein Land, das nicht in verkrusteten Strukturen verharrt. Natürlich ist vieles dieser Veränderung aus der Not geboren, denn: Ja, es gab eine Zeitenwende, und wir sind mittendrin zurückgekehrt; aber ich muss sagen: Bei aller Sorge, die ich vor dieser Heimkehr hatte - ich bin sehr froh, wieder hier zu sein. Teil dieses alten neuen Landes zu sein. Mit Socken aus Seemannsgarn an den Füßen und Brombeermarmelade im Glas durch den Winter zu kommen. In diesem - meinem - tollen Land.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 12.11.2022 | 13:05 Uhr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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