Zwei Jungen sitzen auf einer Müllhalde in Dandora, Kenia. © picture alliance / ZUMAPRESS.com Foto: James Wakibia
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AUDIO: Glücklich trotz alledem? (10 Min)

Wie inmitten kenianischen Elends manchmal dennoch Freude wächst

Stand: 03.06.2023 06:00 Uhr

Rund 4,4 Millionen Menschen leben in Nairobi, der Hauptstadt Kenias - manche unter fast unvorstellbaren Umständen. Selbst für sie aber gibt es kleine Momente der Freude in Gemeinschaft, inmitten von Abfall und Elend.

von Antje Diekhans

Ein Ort in Nairobi, der mich nie unberührt lässt, ist Dandora. Die größte Müllhalde der Stadt und eine surreale Umgebung. Der Abfall türmt sich zu weichen Hügeln, in die man beim Gehen leicht einsackt. Rauchsäulen und Dämpfe steigen auf, von denen es heißt, dass sie giftig sind. An vielen Stellen stinkt es bestialisch. Schweine und wilde Hunde laufen umher. Über allem thronen Marabus, große aasfressende Vögel, die mit ihren langen Schnäbeln nach essbaren Brocken picken. Der Ort hat eine merkwürdige Faszination. Es fühlt sich fast apokalyptisch an, hier unterwegs zu sein.

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Auf der Halde landet alles, was die Millionenstadt jeden Tag ausspuckt. Reste von den Tellern in Nairobis teuren Restaurants. Medizinische Abfälle aus den Krankenhäusern. Schrott, Plastik, Kleidung. Dandora ist seit langem überfüllt. Aber trotzdem rollen weiter die Müll-Laster an und schütten ihre Ladungen hier ab.

Und genau darauf warten die Menschen in Dandora. Sie leben vom Abfall der anderen. Müllsucher heißen sie und einige haben sich direkt auf der Halde wackelige Hütten gebaut. Andere hausen ebenso jämmerlich am Rand. Mich überkommt hier immer eine tiefe Demut und Dankbarkeit dafür, dass ich nicht so leben muss. Wie schaffen das Menschen überhaupt? Wie kommt man durch das Leben, wenn das erste und das letzte, was man jeden Tag sieht, Abfall ist?

Ein Leben auf der Müllhalde

Als Reporterin kann ich Dandora nur mit Begleitschutz besuchen. Ich hatte Goko dabei, einen der "Bosse" auf der Müllhalde. Früher gehörte er selbst zu den Banden, die Menschen in Dandora in Angst und Schrecken versetzen. Heute verdient er sein Geld damit, Leute wie mich über die Halde zu führen. Er sei bekehrt, sagt er. Wir hatten noch zwei andere Schatten: Männer, die von Goko angeheuert worden waren, um im Ernstfall eingreifen zu können. Aber ich hatte nur freundliche Begegnungen. 

Eine davon hat mich bis heute nicht losgelassen: ein damals 13-jähriger Junge. Er heißt Adroncus und gehört zu den vielen Kindern, die auf der Halde Geld verdienen. Sie laufen mit großen Säcken umher und sammeln vor allem Plastikmüll. Wenn sie davon genug zusammenbekommen, können sie ihre Ausbeute an einer der Recycling-Stellen abladen. Ein Sack mit Plastik bringt umgerechnet gut einen Euro ein. Genug für eine einfache Mahlzeit.

Adroncus wohnt mit seiner Großmutter und zwei Geschwistern in einem Verschlag neben der Halde. Als Hütte lässt sich diese Unterkunft schon nicht mehr bezeichnen. Es ist ein windschiefer Unterschlupf aus Wellblech, der gerade genug vor Sonne, Regen und Blicken schützt. Einrichtung ist quasi nicht vorhanden. Nur eine Matratze und ein paar Kochutensilien. Die Kinder - Adroncus, eine ältere Schwester und ein jüngerer Bruder - sind Waisen. Die Großmutter kümmert sich so gut es geht um ihre Enkel. Sie geht am Stock, schleppt sich aber noch selbst jeden Tag auf die Halde, um Geld für Essen und auch für die Schulkosten zusammenzubekommen.

Großer Zusammenhalt in der Familie

Als ich mit den vieren in diesem Wellblech-Verschlag zusammensaß, hatte ich einen großen Kloß im Hals. Als Korrespondentin in Afrika habe ich immer wieder Begegnungen, die mich erschüttern. Ich treffe Frauen im Kongo, die von Milizen vergewaltigt wurden. Sehe hungernde Kinder in Dürregebieten. Erlebe die Verzweiflung von Flüchtlingen, die alles zurücklassen mussten und sogar von ihren engsten Angehörigen getrennt wurden. Oft ist es für mich dann unbegreiflich, woher die Menschen die Kraft nehmen, überhaupt noch weiter zu machen. Doch gerade in den schrecklichsten Situationen habe ich oft erlebt, dass viele eine unglaubliche Stärke entwickeln.

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Für Adroncus und seine Familie ist das, was ich als Elend empfinde, der Alltag. Es gibt gute und schlechte Tage. Adroncus hat mir zum Beispiel von einigen Glücksfunden auf der Halde erzählt. Einmal hat er sogar ein noch funktionierendes Telefon entdeckt. Das wurde ihm von einer der Banden zwar gleich wieder abgenommen, aber manche Schätze kann er dann doch schnell genug verstecken und sicher nach Hause bringen. Kleidung, die sich weiterverkaufen lässt. Eine Tasche, die noch kaum Löcher hat. Ein alter Topf.

Über solche Funde freuen sich dann alle zusammen. Es ist eine Familie, die sehr liebevoll miteinander umgeht und alles teilt. Eine gewisse Gottesfürchtigkeit gehört auch dazu. Das ist bei vielen armen Familien in Kenia so. Sie sind tief gläubig und besuchen jeden Sonntag Gottesdienste, die über Stunden gehen. Ihnen gibt es Halt, auf eine höhere Instanz zu vertrauen, die irgendwann vielleicht doch für Gerechtigkeit sorgt. Mindestens genauso wichtig ist aber der Zusammenhalt in der Gemeinde. Ein Kreis von Leuten, der sich unterstützt und füreinander da ist.

Generell ist Gemeinsamkeit in Kenia sehr wichtig. Die Familien sind weit verzweigt, aber trotzdem eng verbunden. Oft sprechen Bekannte von einem Bruder und ich erfahre erst nach einiger Zeit, dass es genau genommen ein Cousin ist. Aber so genau nimmt das hier eben niemand. Auch der Cousin ist jemand, für den man im Ernstfall in die Bresche springt. Dem man aushilft, wenn Krankenhausrechnungen bezahlt werden müssen. Oder das Schulgeld für die Kinder fehlt.

Spezieller Umgang mit Trauer

Kenias erster Präsident nach der Unabhängigkeit, Jomo Kenyatta, hat dieses Gemeinschaftsgefühl sogar politisiert. "Harambee" rief er in seinen Reden immer wieder - übersetzt etwa "Lasst uns alle zusammen an einem Strick ziehen". Dieser Ausdruck hat sich bis heute gehalten. Unter dem Motto "Harambee" wird Geld gesammelt, wenn eine Familie nicht allein die Kosten für etwas tragen kann. Vor allem, wenn jemand gestorben ist.

Beerdigungen sind in Kenia eine große Sache. Zigmal wichtiger als Hochzeiten, Abschlussfeiern oder erst recht Geburtstage. Die Feierlichkeiten halten oft über Tage an. Von nah und fern kommen Verwandte und Bekannte angereist. Das ganze Dorf ist sowieso dabei. Bei den Luos, einer Volksgruppe am Viktoriasee, feiern auch die Verstorbenen noch mit. Sie sind aufgebahrt und damit Teil der Partys. Jawohl, Partys. Von Beerdigungs-Discos spricht man auch. Es wird zwar lautstark getrauert, aber genauso lautstark auch gefeiert und getanzt bis spät in die Nacht. So manche Liebe hat auf solchen Beerdigungen begonnen.

Was sagt es über eine Gesellschaft, dass der Abschied von den Toten so eine große Rolle spielt? Und zwar nicht nur, wenn gerade die Königin gestorben ist. Ich glaube, dass auch das wieder eine besondere Form der Gemeinsamkeit ausdrückt. Es ist ein anderer Umgang mit Trauer, als er bei uns üblich ist. Niemand muss den Schmerz mit sich alleine ausmachen. Auch die Schwester, mit der man eigentlich gerade im Clinch lag, wird auf jeden Fall da sein. Es ist ein Netz, das stützt und trägt.

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Die Freude an kleinen Dingen

So wie auch Adroncus und seine Familie jeden Tag ihr Leben gemeinsam bewältigen. Der Kontakt zu ihm ist nach meinem Besuch auf der Halde nicht abgerissen. Am selben Tag, nachdem ich ihn und seine Familie besucht hatte, war ich später mit Freunden in einem Lokal verabredet. Wir tranken Kaffee, frische Fruchtsäfte und aßen eine Kleinigkeit. Die Rechnung war hinterher so hoch, dass wir mit dem Geld leicht die Jahresmiete für die wackelige Hütte der Familie hätten bezahlen können. Denn die kostet pro Monat umgerechnet nicht mal fünf Euro. In Dandora ändern sich schnell die Dimensionen, wie viel etwas wert ist. Ein Müllsucher pries mir den Fund von ein paar alten Einkaufsbeuteln an, als wäre er auf eine Goldader gestoßen. Denn solche Beutel ließen sich gut an die Händler auf den Second-Hand-Märkten verkaufen und er könne von dem Gewinn seine Familie mehrere Tage ernähren.

Ich habe nach dem Besuch auf Dandora oft darüber nachgedacht, wie privilegiert ich bin. Auch wenn die Preise für viele Sachen steigen, muss sich meine Familie nie darüber Gedanken machen, ob das Geld für Lebensmittel reichen wird. So treffe ich Adroncus jetzt immer mal wieder. Wir gehen zusammen in den Supermarkt und er lädt alles in den Wagen, was sich an Vorräten in der kleinen Hütte unterbringen lässt. Viel Maismehl, aus dem ein Brei gekocht wird. Öl, Gemüse und Obst. Wenn wir danach noch an den Essensständen im Einkaufszentrum vorbeigehen, nimmt Adroncus für seine Großmutter gerne Chicken Wings von einer bekannten Fastfood-Kette mit. Oma liebt die. Als Adroncus zum ersten Mal mit der fettigen Tüte nach Hause gekommen war, fand sie danach ein Mobiltelefon und rief mich überglücklich an, um sich zu bedanken.

Die Freude an kleinen Dingen ist etwas, das sich von Adroncus und seiner Familie lernen lässt. Genauso wie das gemeinsame Festhalten an Zielen. Adroncus ist ein guter Schüler. Sein Traum ist, irgendwann einen guten Job zu haben und für alle ein Haus außerhalb von Dandora zu finden. Manche aus der Nachbarschaft haben das schon geschafft. Vielleicht bald auch er.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 03.06.2023 | 13:05 Uhr

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