Was ist eigentlich normal?
Was ist normal? Wie entstehen und verändern sich Normen? In der neuen Folge des Philosophie-Podcasts Tee mit Warum erklärt der Literaturwissenschaftler Jürgen Link Normalismus und Normativität.
"Das ist doch ganz normal", sagen wir oft. Wirklich? Wie entstehen Normen in einer Gesellschaft? Und wer hat die Macht, Standards zu verändern? Jürgen Link beschäftigt sich seit vielen Jahren mit diesen Fragen, die auch Thema seiner Bücher "Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne. Krise, New Normal, Populismus" sowie "Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird" sind. Der Literaturwissenschaftler lehrte an den Universitäten in Bochum und Dortmund und gibt zusammen mit Rolf Parr seit 1982 die Zeitschrift "KultuRRevolution" heraus. Einen Auszug des Gesprächs mit Jürgen Link lesen Sie hier, das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.
Herr Link, was ist denn eigentlich Normalismus?
Link: Da würde ich zunächst noch einmal zurückgehen auf den Begriff des Normalen, um den Normalismus davon abheben zu können. Das Normale oder die Normalität ist sozusagen das positive N-Wort unserer Kultur. Was normal ist, ist okay. Aber was ist denn normal? Da gibt es grob gesagt zwei Möglichkeiten, sich dem anzunähern. Eine erste Vorstellung beruht auf dem subjektiven Gefühl. Viele werden sagen, was normal ist, das weiß ich selber. Dazu brauche ich keine Experten. Das weiß ich aus meinem Gefühl her. Nennen wir diese erste Vorstellung die Allgemeinplatz-Normalität. Wir managen unseren Alltag, wir können das gut. Das machen wir nach Normalitätsvorstellungen, die wir haben. Das sind Begriffe wie Wiederholung, Gewohnheit, Erwartbarkeit, Routine, störungsfrei.
Man kann das an einem guten Beispiel aus dem Verkehr klarmachen. Wir wissen, die S-Bahn ist manchmal verspätet, aber das ist normal. Wir haben genaue Vorstellungen darüber, in welchem Grade das noch normal ist. Wenn aber der Bahnverkehr vollkommen zusammenbricht, ist es nicht mehr normal. Daran sehen wir eine ganz wichtige Sache. Das Normale hängt immer mit seiner Grenze und seinem Gegenteil zusammen, mit dem Anormalen oder auch Abnormen, was außerhalb jeder Norm steht.
Um das noch einmal festzuhalten: Normalität ist nicht etwas, was schon immer da ist, sondern etwas, das aufgrund unterschiedlicher Verhältnisse hergestellt wird?
Jürgen Link: Damit sind wir bei der zweiten Möglichkeit von Normalitätsvorstellung. Da lassen wir dieses subjektive Gefühl beiseite und versuchen zu fragen: Gibt es eine objektive Basis für etwas, was in unserer Kultur für normal gehalten wird? Das ist eben meine These: Ja, das gibt es sehr wohl. Und das ist die verdatete Gesellschaft.
Viele Menschen überprüfen sich selbst und ordnen sich in eine Norm ein, beispielsweise mit einer Fitnessuhr. Ist es bestrebenswert, sich selbst zu optimieren und der Norm anzugleichen? Oder hilft uns das sogar beim Überleben?
Link: Ja, aber dazu muss man noch einmal etwas zum Begriff der Norm sagen, der übrigens sehr verschieden benutzt wird. Der ist zum einen normativ verstanden, also zwischen Normalität und Normativität. Normativität und die normative Norm ist nicht doppelt gemoppelt. Die normative Norm ist eine Norm, die präskriptiv ist, die Vorschriften macht, die auch sanktioniert, wenn sie nicht eingehalten wird. Man muss dieser Norm folgen.
Diese normative Norm hat immer einen juristischen Beigeschmack, denn es wird gesagt: 'Wenn du die Normen nicht einhältst, dann wirst du bestraft'. Das heißt, sie arbeitet mit Geboten und Verboten. Das haben alle Gesellschaften bis heute gehabt, auch schon die Steinzeit-Gesellschaften. Besonders die Religionen haben das, die sind alle normativ und schreiben vor: Ich muss das Kopftuch tragen. Wenn nicht, dann werde ich sanktioniert, um das Beispiel des Irans zu nennen.
Davon hat uns die Normalität in gewisser Weise befreit. Die Normalität hat nämlich nicht dieses Normative, sofort mit Strafe und Geburt und Verbot arbeitende, sondern eine Norm, die sich einpendelt. Im Alltag finden sich ganz viele Begriffe des Normalismus. Die Sexualität es ist ein wichtiges Feld dafür, weil früher vieles für anormal gehalten wurde und teilweise große Kämpfe darum stattfanden. Da gibt es diese Redewendungen im Alltag, die wir alle kennen: "Ach, das sehe ich nicht so eng." "Ach, das gehe ich etwas lockerer an." Das ist normalistisch im Unterschied zu dem Normativen.
Die Normalitätsgrenze ist immer wichtig, darauf möchte ich noch mal hinweisen. Nicht nur die Normativität hat eine Grenze, wo dann sofort bestraft wird, sondern auch der Normalismus hat eine Grenze, die sich aber relativ frei einpendelt.
In der Gesellschaft der Bundesrepublik konnte man in den letzten Jahrzehnten beobachten, wie sich Normen ändern. Beispielsweise, was die Grenze zwischen normal und anomal angeht hinsichtlich Sexualität. Die Stellung von Homosexuellen in der Gesellschaft ist heute eine andere, als es in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren der Fall war. Da hat sich offensichtlich diese Normalitätsgrenze verschoben, oder?
Link: Richtig, denn nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Vorstellung von Normalität besonders auf dem Gebiet der Sexualität, aber auch im Alltag und allgemein in der Gesellschaft sehr geändert. Ein wichtiges Ereignis waren die sogenannten Kinsey-Reports, die einfach mittels Daten die strikten, starren Vorstellungen das Protonormalismus von Normalität und dem, was nicht normal ist, regelrecht kulturrevolutionär zerschlagen haben. So würde ich das wirklich nennen. Einfach, indem bewiesen wurde aufgrund von Befragungen und Datenerhebungen, dass sich etwa fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung sexuell homophil verhält. Dann sind die Betroffenen sogar einen Schritt weiter gegangen und haben gesagt, uns hat man bisher als schwul oder lesbisch bezeichnet und damit negativ ausgegrenzt. Wir drehen das jetzt um und sagen ja, wir sind schwul, wir sind lesbisch und und so weiter.
Die Fragen stellten Denise M'Baye und Sebastian Friedrich. Das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.