Kampnagel in Hamburg wird 40: "Du wirst den Ort mögen"

Stand: 01.10.2022 15:23 Uhr

Kampnagel, die Kulturfabrik in Hamburg, wird 40 Jahre alt. Die ehemalige Kran- und Gabelstaplerfabrik hat längst einen internationalen Ruf als eines der wichtigsten Häuser für zeitgenössische Formen von Tanz, Theater und Performance.

von Peter Helling

Amelie Deuflhard ist seit 15 Jahren Intendantin der Kulturfabrik Kampnagel in Hamburg-Winterhude. Gefragt danach, was die wichtigste Begegnung mit einem Künstler, einer Künstlerin war, muss sie nicht lange nachdenken. Christoph Schlingensief, der Film- und Theaterregisseur, hat hier eine seiner letzten Arbeiten entwickelt. Am Ende war er von der Zusammenarbeit so begeistert, dass er Deuflhard einlud, mit ihm an seinem Operndorf-Projekt in Burkina Faso zu arbeiten.

Kampnagel: ein "visionäres Dorf"

Amelie Deuflhard, Intendantin der Kulturfabrik Kampnagel, aufgenommen am Rande einer Pressekonferenz. © picture alliance/dpa | Daniel Reinhardt Foto: Daniel Reinhardt
Kampnagel-Indendantin Amelie Deuflhard

Auch wenn es nicht dazu kam: Eine Parallele zum 2010 verstorbenen Visionär sieht die Intendantin doch. Kampnagel, sagt sie lächelnd, sei auch so ein "visionäres Dorf". Hier, auf den Brachen einer alten Kran- und Gabelstaplerfabrik, stand schon zu Beginn ihrer Intendanz der Begriff der "Besiedelung" ganz weit oben. Brachland wird urbar gemacht mit Kultur. Noch heute stehen am Osterbekkanal Wohnwägen, in denen Kampnagel-Techniker übernachten. Das Konzept lässt sich gut auf die hier gezeigte Kunst übertragen. "Dorf" heißt immer auch: Gemeinschaft, geteiltes Leben, Nähe. 

30.000 Menschen beim Internationalen Sommerfestival 

Das Internationale Sommerfestival besuchten in diesem Jahr rund 30.000 Menschen. Dort gab es radikale Choreographien zu sehen wie "Navy Blue" der Nordirin Oona Doherty, Florentina Holzinger zeigte ihren feministischen Höllentrip "A Divine Comedy", die kanadischen Puppenspieler und -spielerinnen um Josh "Socalled" Dolgin entwickelten hier den letzten Teil ihrer intergalaktischen Love-Story mit dem Kaiser Quartett, und der Filmregisseur Gus Van Sant inszenierte sein erstes Theaterstück, ein Andy Warhol-Musical. 

Es geht ums Mitgestalten

Kampnagel ist nicht nur Abspielort der internationalen freien Kunst. Hier werden die Stücke auch geprobt, dramaturgisch begleitet. Darauf legt Amelie Deuflhard wert. Und gefeiert wird auch und ausgiebig, sei es im coolen Festivalgarten am Kanal, sei es an langen Tafeln im Foyer. Das gemeinsame Essen, Diskutieren und Tanzen gehöre, sagt sie, fest zu Kampnagel dazu. "Wir bieten nicht einfach ein Stück, sondern einen ganzen Abend". Ein weiterer Faktor: das Publikum, das sich mit Kampnagel verbunden fühle, das hier nicht einfach konsumiert, sondern mitmacht, mitdenkt, mitfeiert. Und genau das schätzten die künstlerischen Teams aus aller Welt.

Auch Yoko Ono ließ sich überzeugen

Da müsse sich keiner und keine lange bitten lassen, hier aufzutreten, die meisten kommen gerne. Gut, bei einem Megastar wie Yoko Ono war es etwas schwierig, räumt die Intendantin ein. Dann müsse András Siebold, Leiter des Sommerfestivals, manchmal auch hinterher reisen und sagen: "Komm' ruhig, du wirst den Ort mögen". Schließlich hat Yoko Ono zugestimmt, weil ihre New Yorker Freunde gesagt hätten, Kampnagel sei ein cooler Ort. So sehr hat es sich herumgesprochen. "Es gab Jahre", sagt Amelie Deuflhard, "da war Kampnagel international bekannter als in der Stadt. Die Zeiten sind glücklicherweise vorbei." Spätestens, als Kampnagel 2020 zum vierten Staatstheater in Hamburg wurde. 

Migrantpolitan: Geflüchtete entwickeln Kunst 

Zero, Moustafa, Nadine Jessen, Anas Aboura sitzen sitzen auf Stühlen und Lächeln in die Kamera. © NDR Foto: Peter Helling
Von links nach rechts: Die Künstler Zero und Moustafa, sowie Dramaturgin Nadine Jessen und der Dramaturg Anas Aboura sind Teil von Migrantpolitan auf Kampnagel.

Aber noch ein anderer Aspekt ist wichtig, Deulfhard nennt es "glokales" Arbeiten. Global und lokal: Sie möchte hier zum Beispiel Künstlerinnen aus der lokalen schwarzen Community, Mable Preach etwa, die die Jubiläumsgala moderiert, mit Dada Masilo aus Südafrika zusammenbringen. Oder das "Migrantpolitan" im Garten von Kampnagel. Hier können seit 2015 Geflüchtete ihre Kunst entwickeln und ganze Online-Serien drehen. Ein Ort, der aneckt: 2015 klagte die AfD gegen Deuflhard, weil sie ihrer Meinung nach Geflüchtete auf Kampnagel illegal beherberge. Das Verfahren wurde 2016 eingestellt. An Kampnagel kann man sich reiben, und das ist für einen Ort des Diskurses wichtig. Diskurs, die Debatte über die Gesellschaft: Das suchen sie hier alle. Über Rassismus, Postkolonialismus, die Auswirkungen des Kapitalismus. 

"State of the Art" oder Avantgarde?

Natürlich sind die Tanz-, Theater und Musikformate, die hier in den Hallen K6, K1, K2 oder auf den Probebühnen veranstaltet werden, längst "State of the Art", so der Titel des Jubiläumsprogramms. Ein kleiner, feiner Widerspruch zum Anspruch, Avantgarde zu sein, aber es stimmt schon: Was hier und an anderen internationalen Produktionshäusern seit 40 Jahren entwickelt und vorgedacht wird, hat das Theater an den klassischen Staats- und Stadttheatern entscheidend beeinflusst - Crossover-Denken, Tanz, Performance, Sprechtheater mit Musikformaten zu verbinden, flachere Hierarchien, queere, interkulturelle Theaterformen. Kampnagel ist auch Denkfabrik. Die rauen, etwas zugigen Hallen ohne Guckkasten, Samtvorhang oder Schwellenangst sind ein idealer Ort für Gruppen wie She She Pop oder Rimini Protokoll.

40 Jahre Kampnagel? Ein Missverständnis

40 Jahre Kampnagel sind eigentlich ein Missverständnis, sagt Ulrich Waller, künstlerischer Leiter des St. Pauli Theaters. Er war damals Regieassistent und Regisseur am Deutschen Schauspielhaus. Schon vor 41 Jahren sei es losgegangen.1981 nämlich, als das Deutsche Schauspielhaus wegen eines Umbaus nach einem Zwischenspielort suchen musste. Damals hat Gerd Schlesselmann, Betriebsdirektor des Hauses, Kampnagel „entdeckt“. Die leere Fabrikanlage hatte noch bis 1981 Gabelstapler hergestellt, Kampnagel-Kräne stehen noch heute an vielen Hafenbecken weltweit. In die Hallen, die nach Maschinenöl rochen, baute das Schauspielhaus Podeste, Licht- und Tontechnik. Eröffnet wurde mit Jérôme Savarys "Weihnachten an der Front". Im Oktober 1982 fand zum ersten Mal das Festival "Besetzungsproben" statt: Das Schauspielhaus ließ freie Theatergruppen unter der Leitung von Corny Littmann unter seine Fittiche. Das war der Start von Kampnagel als Ort für freies Theater.

Vom Provisorium zur international beachteten Institution 

Und immer war da die Angst: Wird Kampnagel doch noch abgerissen? Wie ein Damoklesschwert hing die Abrissbirne über dem Gelände. Das Schauspielhaus war sozusagen der Rettungsanker. Als es 1984 zurück ins Stammhaus an der Kirchenallee in St. Georg zog, setzte sich Hamburgs Kultursenatorin Helga Schuchardt für den Erhalt ein - mit Erfolg. 1985 wurden hier das Leitungsduo Hannah Hurtzig und Mücke Quinckardt etabliert. 1986 eröffnete Ulrich Waller die neue Ära mit "Penelope": Barbara Nüsse stand da als Molly Bloom, mit dem Schlussmonolog von James Joyces "Ulysses". Das Stück wurde zum europäischen Theaterrenner. Plötzlich sprach man von Kampnagel nicht mehr nur als Provisorium, als Abspielort freier Gruppen. Jetzt gab es Uraufführungen, reguläre Premieren, einen Spielplan. Immer in der rostig-rauen Arbeitsatmosphäre der ehemaligen Fabrik. Auch wenn es lange dauerte, bis das Publikum kam, bis die Einnahmen stimmten.

Geist von Widerborstigkeit, Freiheit und Offenheit

Und heute? Gratulieren Künstler und Künstlerinnen aus der ganzen Welt. Für Ariel Ashbel aus Israel ist es das "beste Theater in Deutschland". Dieses visionäre Dorf, das die Kunst der Welt einlädt und mit lokalen Strömungen verbindet, ist immer auch Projekt, vorübergehend, im Fluss. Derzeit arbeitet das renommierte Architekturbüro Lacaton & Vassal, Pritzker-Preisträger 2021, an einer neuen Vision für Kampnagel. Ohne quietschende Podeste, aber mit Graffiti und möglichst klimaneutral. Damit dieser Geist von Widerborstigkeit, Freiheit und Offenheit auch in Zukunft erhalten bleibt.

 

Weitere Informationen
Amelie Deuflhard © NDR Foto: Peter Helling

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch in den Tag | 30.09.2022 | 07:20 Uhr

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Theater

Tanz

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