Iran: Gibt es eine Chance auf gesellschaftlichen Wandel?
Tausende Menschen sind nach dem Tod von Mahsa Amini im Iran verhaftet worden. Es gab viele Tote. Der Staat greift hart durch, doch die Demonstrationen halten an.
Die 22-jährige Mahsa Amini wurde vor einigen Tagen von der Sittenpolizei verhaftet, weil sie gegen die strenge islamische Kleiderordnung verstoßen hatte. Kurz nach ihrer Festnahme fiel sie ins Koma und starb - die Umstände sind unklar. Ein Gespräch mit Katajun Amirpur, Professorin für Islamwissenschaft.
Frau Amirpur, die Schriftstellerin Shida Bazyar hat geschrieben: "Diktaturen können töten, ohne Folgen zu fürchten. Im Iran geht das nicht mehr ohne Weiteres. Im Iran sind die Zeiten des stummen Rückzuges vorbei." Teilen Sie diese Einschätzung?
Katajun Amirpur: Es gibt sehr viele Menschen, die jetzt durch diesen Druck, der erzeugt wird, durch das Niederschlagen der Proteste noch verstärkter auf die Straßen gehen. Das haben wir zwar in den letzten Jahren auch schon gesehen, denn es ist ja nicht so, als wäre es jetzt das erste Mal, dass im Iran demonstriert wird - das sehen wir schon seit vielen Jahren immer wieder. Aber man merkt auch, dass die Wut der Menschen dieses Mal noch deutlich größer ist und dass sie sich auch weiterhin zur Wehr setzen, obwohl der Sicherheitsapparat massiv durchgreift.
Was hören Sie aktuell aus dem Iran?
Amirpur: Die Menschen haben Angst, auf die Straße zu gehen, aber sie tun es trotzdem. Es wird immer schwieriger, sich zu organisieren. Es wird immer schwieriger, über Messenger-Dienste miteinander zu kommunizieren. Aber inzwischen braucht es vielleicht auch gar nicht mehr so viel Kommunikation untereinander, denn man weiß ja, was wo läuft. Es ist eher für uns schwierig, noch mitzubekommen, was im Iran wirklich passiert, weil das Internet so stark gedrosselt wird und weil man sehr wenig an Bildern bekommt, um etwas nachvollziehen zu können.
Woher kommt dieser Mut, insbesondere der Frauen, die sich öffentlich mit Mahsa Amini solidarisiert haben, die Kopftücher abgenommen und sich die Haare abgeschnitten haben?
Amirpur: Viele gehen tatsächlich auch mit der Parole auf die Straße: Wenn ihr uns nichts gebt, was unser Leben lebenswert macht, dann könntet ihr es uns auch gleich nehmen. Es ist eine wahnsinnige Wut entstanden in den Jahren und Jahrzehnten, und das Kopftuch ist dabei ein Symbol für alles. Es geht ja nicht nur darum, dass man im Iran ein Kopftuch tragen muss, es geht darum, wofür dieses Kopftuch steht. Es steht dafür, dass man nicht frei wählen darf, dass man seine Meinung nicht sagen darf, dass man nicht trinken darf, was man möchte, dass man nicht die Musik hören darf, die man möchte, dass man vor allem überhaupt keine politische Teilhabe um Repräsentanz hat. Es ist quasi auch ein Symbol für die nicht vorhandenen Minderheitenrechte. Deswegen ist es etwas, wo alle andocken können. Alle sagen: Das symbolisiert auch etwas für uns. Es ist ein bisschen was anderes als zum Beispiel 2009, als sehr viele Menschen - drei Millionen sollen es an einem Tag gewesen sein - auf die Straßen gegangen sind, um gegen die Wahlfälschungen zu demonstrieren. Da musste man sich mit den politischen Führern identifizieren, die nicht gewählt worden sind - und für viele war das keine Option. 2019 ging es um Brot - auch da sagten viele Reiche: Was schert es mich, wenn das Brot teurer wird? Aber das heute ist etwas, wo wirklich jeder andocken kann. Und das bringt es vielleicht zu einer kritischen Masse.
Heißt das, es gibt eine Chance auf einen gesellschaftlichen Wandel?
Amirpur: Ich finde es wahnsinnig schwer, das einzuschätzen. Auf der einen Seite gibt es eine sehr große kritische Masse, die etwas ganz Neues will, die nicht nur Reformen will, sondern die Abschaffung der Islamischen Republik. Aber auf der anderen Seite ist dieses Regime seit Jahrzehnten genau auf diese Demonstrationen vorbereitet. Man weiß ja, wen man auf die Straße schicken muss, um das niederzumachen. Das hat man nicht erst vor drei Jahren erprobt, sondern das probt man schon seit 40 Jahren. Insofern ist es sehr schwierig, dass sich die Protestierenden wirklich Gehör verschaffen können oder zu ihrem Ziel kommen können.
Das Gespräch führte Friederike Westerhaus.