Die Soziologin Jutta Allmendinger © WZB Foto: David Ausserhofer

Allmendinger: "Die Kirche könnte mehr machen, als sie tut"

Stand: 07.12.2022 16:30 Uhr

Jutta Allmendinger ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung in Berlin. Ihr Spezialgebiet ist Gerechtigkeit. Zwischen den Geschlechtern, aber auch auf die ganze Gesellschaft bezogen.

Das müsse aber erstmal auch durch das Arbeitsleben ermöglicht werden, und von daher müssten wir von der Erwerbstätigkeitsgesellschaft wieder hinkommen zu einer Tätigkeitsgesellschaft und von Individualinteressen zu Gemeinwohl, so Allmendinger über Gerechtigkeit und Umverteilung.

Gab es in ihrer Biografie eine Situation, wo sie gemerkt haben, dass es mein Thema - daran möchte ich weiterarbeiten?

Jutta Allmendinger: Auf der privaten Ebene insofern ja, als dass ich mir vorgenommen habe, mich zu schützen vor Lebensereignissen, die meine Mutter sehr hart getroffen haben. Sie hat ihr Studium aufgegeben, weil ich auf die Welt kam und dann meine Geschwister auf die Welt kamen, weil mein Vater gut verdient hat. Sie war von daher gar nicht gewappnet war auf einen sehr frühen Tod meines Vaters, der aus heiterem Himmel an einem plötzlichen Herzinfarkt starb. Meine Mutter stand da, hatte keine abgeschlossene Berufsausbildung, musste im Alter von 42 nochmal auf die Uni, was kein Zuckerschlecken war. Sie ist nie wieder auf den Ast gekommen, auf dem sie früher mal war, trotz großem Mut, trotz höchster Intelligenz und Anstrengung. Da dachte ich, nee, da passt du mal besser auf dich auf.

Ja, aber das Ganze könnte dann auch dazu führen, dass man eine in Anführungszeichen männliche, berufliche Biografie annimmt. Es führt ja nicht automatisch dazu, dass man dann sagt, das macht Sinn, dass wir die Care-Arbeit teilen …

Allmendinger: Wenn ich mit dem professionellen Bezug beginne, dann gibt es einen sehr, sehr starken Literaturfundus von allen Ländern dieser Welt, dass die einseitige Care-Arbeit zulasten der Lebensverläufe von Frauen führt. Ganz einfach.

Oder, dass es sehr viele Männer gibt, die am Ende ihres Lebens, wenn sie gefragt werden, was sie gerne anders machen würden und die Karriere gemacht haben, sagen ich hätte auch gerne mehr Zeit mit meiner Familie gebracht. Also, dass Care-Arbeit nicht was Negatives ist, was schlecht bewertet wird, wofür man kein Geld bekommt, sondern auch, was, was den Menschen ganz stark prägt und ausmacht …

Allmendinger: Genau. Und das sieht man eben nicht nur bei den älteren Männern, die das jetzt rückblickend sagen - ach, da habe ich jetzt etwas verpasst. Sieht man eben auch bei den jungen Männern, die ganz klar und sagen: Nein, also so wie mein Vater will ich das nicht mehr.

Wie ist denn die Welt, die sie erleben wollen?

Allmendinger: Die Welt, die ich erleben möchte, ist eine Welt, die wesentlich stärker zusammenwächst als das, was wir jetzt sehen. Wir haben ja eine Welt, die auseinanderdriftet, dazu hat Corona wieder auch beigetragen,

Also Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit?

Allmendinger: Ja, wir müssen zusammen anpacken. Sonst kriegen wir die Klimawende und auch die Energiekrise nicht hin. Dann werde ich mit meinem Einkommen so viel Wasser und Strom konsumieren können, wie ich möchte, weil ich es zahlen kann. Und andere werden ganz wenig davon haben. Wir müssen da wirklich noch einmal grundsätzlich auch an Fragen der Umverteilung gehen und uns zurückbesinnen an Zeiten, wo wir das auch gemacht haben.

Was würden Sie sagen? Was ist das, was uns zusammenhalten kann? Ist das Verständnis füreinander oder wirklich Umverteilung?

Allmendinger: Also was uns zusammenhalten kann, ist erstmal, dass wir den Eindruck haben, dass wir auf einer Wellenlänge sind, dass wir hier keine Aliens unter uns haben. Und das hat diese Vermächtnisstudie sehr schön gezeigt. Das zeigt im Übrigen auch diese Aktionen, die verschiedene Mädchen machen, die maximal unterschiedliche Einstellungen haben. Und dann schaut man, ob die so Vorurteile abbauen, indem sie sich miteinander unterhalten. Und das kann man tatsächlich sehen. Also dieses Moment wieder, ja Orte der Begegnung zu schaffen, Umschlagplätze des Sozialen, wie es früher in wesentlich größerem Ausmaß als heute Gewerkschaften waren, wie es auch der Zivildienst oder der Wehrdienst war, wo ganz unterschiedliche Leute zusammenkamen. Ich weiß, bei mir war es der Konfirmationsunterricht. Ich wuchs unter meinesgleichen auf. Nicht aber im Konfirmationsunterricht - da waren von einer Jahrgangsstufe, egal aus welchen Elternhäusern, alle beisammen. Das fand ich damals richtig aufregend.

Also hat Sie das geprägt für ihren oder zur Aufstellung ihres eigenen inneren Kompasses. Kann man das so sagen?

Allmendinger: Das hat mich richtig mega geprägt.

Nur diese Erfahrungen in der Gemeinschaft oder auch das Thema Glauben?

Allmendinger: Insofern auch mit der Glaubensdimension, verbunden nicht nur auf und des Inhaltes des Konfirmationsunterrichts, sondern auch auf aufgrund dessen, dass zumindest die Leute, bei denen ich Konfirmationsunterricht lernen dürfte, darauf sehr großen Wert gelegt haben. Dass ein Ausgleich stattgefunden hat zwischen jenen, die halt in weiterführenden Schulen waren und jenen, die in Grundschulen waren.

Sehen Sie da auch eine Aufgabe der Kirche?

Allmendinger: Absolut, also gerade in heutigen Zeiten, wo ja sehr viel anderes weggebrochen ist, was noch Gemeinsamkeit gestiftet hat, sind die Kirchen meines Erachtens so wichtig wie selten. Ich weiß, ich kriege, wenn ich solche Dinge sage, immer viel Protest von allen Seiten. Ich bleibe aber dabei, dass die Kirche hier immer noch trotz starker, starker Verluste das Potenzial hat, Menschen zu binden, über gemeinsame Wertevorstellungen und vieles mehr und mehr machen könnte, als sie tut.

Welche Werte fallen ihnen zuerst ein?

Allmendinger: Werte der Akzeptanz, Werte des Respekts, Werte der Toleranz, Werte des Miteinander und auch ausgleichenden Miteinanders, Werte des gegenseitigen Helfens und der Umverteilung.

Und von dem spirituellen Angebot sage ich jetzt mal bedeutet Ihnen das etwas? Also würden Sie sich selbst als Christin bezeichnen?

Allmendinger: Ich würde mich als Christin bezeichnen dahingehend, dass ich sehr viele, wenn nicht alle Werte der christlichen du auch anderer Religionen teile. Wenn Sie mich jetzt fragen, ob ich an Gott glaube, das tue ich nicht. Dazu bin ich viel zu sehr Wissenschaftlerin, dass ich mir diese Transformation vorstellen könnte. Aber ich bin in einer gewissen Weise sogar ein gläubiger Mensch dahingehend, dass die Werte mir ganz, ganz wichtig sind.

Einstein hat auch an Gott geglaubt ...

Allmendinger: Ja, das ist ein kleiner Teil dessen, was uns unterscheidet.

Stellen Sie sich vor, Sie sprechen jetzt zu jungen Menschen, die jetzt 20, 30 Jahre jünger sind als Sie. Und sie wollen den Mut machen zu kämpfen. Also wo sehen Sie eine Linie, die trotz dem Mut macht, die trotzdem Hoffnung macht?

Allmendinger:  Dieses Zusammenschließen und für eine Sache eintreten. Also "Fridays for Future", das war wirklich etwas, das den jungen Leuten Mut gemacht hat, es war nur die Hälfte der jungen Leute. Ja, bei Weitem nicht alle, wo man gesehen hat. Das war dann vor Corona, dass das tatsächlich so eine Veränderungs-Dynamik reingekommen ist. Ich würde niemals sagen, dass eine deutsche Gesellschaft eine fatale Gesellschaft ist oder eine Gesellschaft, die durchgängig resigniert. Das wäre falsch. Das zeigen auch meine Daten nicht. Es sind Leute, die abgehängt sind, die auch keine sozialen Kontakte mehr haben, insbesondere im Osten Deutschlands, die es besonders schwer haben und besonders alleine gelassen werden. Und es gibt bestimmte sozioökonomische und soziokulturelle Schichten auch im Westen Deutschlands, um die man sich kümmern müsste, damit sie nicht in Fatalität absinken. Aber verloren ist hier überhaupt noch gar nichts.

Das Interview führte Susanne Richter. Redaktion: NDR

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NDR Info | Gott und die Welt - der Podcast | 10.12.2022 | 07:40 Uhr

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