Jan Philipp Reemtsma spricht im Mai 2022 bei der Eröffnung des Themenjahrs "Sprache" der Klassik Stiftung Weimar. © picture alliance/dpa Foto: Martin Schutt

Jan Philipp Reemtsma: Ein Hamburger Mäzen

Stand: 26.11.2022 23:59 Uhr

Die meisten dürften ihn als das Opfer einer der spektakulärsten Entführungen Deutschlands kennen. Doch Millionär Jan Philipp Reemtsma ist auch Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Literaturprofessor und Publizist.

Jan Philipp Fürchtegott Reemtsma, Sohn des Zigaretten-Fabrikanten Philipp F. Reemtsma, wird am 26. November 1952 in Bonn in die gleichnamige Tabak-Dynastie hineingeboren. Doch der Spross sieht seine Zukunft nicht als Erbe des erfolgreichen Familienunternehmens. Aufgewachsen in Hamburg-Blankenese, studiert er in der Hansestadt Germanistik und Philosophie. Als er mit nur 26 Jahren Anteile des Tabak-Konzerns in Millionenhöhe erbt, veräußert er sie sofort.

Millionär mit Leidenschaft für Literatur

Prägend ist für den jungen Reemtsma die Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Arno Schmidt im Jahr 1977. Reemtsma bietet dem schwer herzkranken Autoren 350.000 Mark an, damit dieser ein sorgenfreies Leben führen kann - eine Summe, die dem entspricht, was damals ein Literatur-Nobelpreisträger erhielt. Als Schmidt zwei Jahre später stirbt, ermöglicht Reemtsma die Gründung der Arno Schmidt Stiftung und wird Mitherausgeber von Schmidts Gesamtwerk.

Förderer von Wissenschaft und Kultur

Jan Philipp Reemtsma vor Fotografien der Wehrmachtsausstellung am 4. November 1999. © dpa /picture alliance Foto: Kay Nietfeld
Als Reaktion auf die heftige Kritik lässt Reemtsma die Wehrmachtsausstellung des HIS von Historikern überprüfen - und überarbeiten.

1984 gründet Reemtsma die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und das Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS), das er von 1990 bis 2015 leitet. Für Furore sorgt 1995 die Ausstellung des Instituts zu den Verbrechen der Wehrmacht. Ausstellungsgegner beklagen eine unzulässige Verunglimpfung der Wehrmacht. Befürworter sehen in ihr einen Beitrag zur schonungslosen Aufklärung der Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Für Schlagzeilen sorgen auch Fehler bei der Zuordnung von Fotos. Die Ausstellung muss daraufhin überarbeitet werden.

Für Hamburg im Einsatz

Hohes Ansehen erwirbt sich Reemtsma als Forscher und Lehrer. Ab 1996 arbeitet er als Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg. Und auch außerhalb der Universität engagiert er sich in der Hansestadt: So erklärt Reemtsma sich zum Beispiel bereit, acht ehemals besetzte Häuser in der Hamburger Hafenstraße für einen symbolischen Preis zu kaufen und in eine genossenschaftliche Verwaltung zu überführen. Der Senat lehnt den Deal zwar ab. Reemtsmas Bemühungen, den jahrelangen Kampf um die Hafenstraße zu befrieden, festigen aber sein Ansehen in breiten Teilen der Gesellschaft. Außerdem setzt er sich dafür ein, dass Hamburger Unternehmen, die während der NS-Zeit von der Zwangsarbeit der Häftlinge des KZ Neuengamme profitiert hatten, finanzielle Unterstützung an die Gedenkstätte zahlen sollten.

Eine der spektakulärsten Entführungen Deutschlands

Das womöglich dunkelste Kapitel in Reemtsmas Leben ist seine Entführung im Jahr 1996: 33 Tage und Nächte wird der damals 43-Jährige in einem Kellerverlies gefangen gehalten.

Hintergrund
Thomas Drach (l.) sitzt im Kölner Landgericht auf der Anklagebank. © Oliver Berg/dpa

Reemtsma-Entführer Drach erneut zu langer Haftstrafe verurteilt

2013 hatte Thomas Drach seine Haftstrafe wegen der Reemtsma-Entführung 1996 abgesessen. Nun muss er erneut für 15 Jahre hinter Gitter. mehr

Alles beginnt am Abend des 25. März 1996, als er auf seinem Grundstück im Hamburger Stadtteil Blankenese überfallen wird. Die Täter schlagen ihn nieder, verbinden ihm die Augen mit Klebeband und bringen ihn in ein eigens für die Entführung angemietetes Haus in Garlstedt im Landkreis Osterholz. In dem Kellerverlies steht Reemtsma Todesängste aus. Zwei Lösegeldübergaben scheitern, erst der dritte Versuch gelingt. Reemtsmas Familie zahlt 30 Millionen D-Mark. Zwei Tage später wird Reemtsma freigelassen. Erst dann erfährt die Öffentlichkeit von der Entführung. Die Medien hatten nicht darüber berichtet, um das Leben der Geisel nicht zu gefährden.

"Der Keller bleibt im Leben"

Die Fahndung nach dem Drahtzieher der Entführung, Thomas Drach, verläuft lange erfolglos. Erst 1998 wird er in Argentinien verhaftet. Zwei Jahre später wird er nach Deutschland ausgeliefert und 2001 zu vierzehneinhalb Jahren Haft verurteilt. Seine zwei Komplizen werden bereits schnell nach dem Ende der Entführung in Spanien gefasst. Sie müssen fünf und zehneinhalb Jahren ins Gefängnis. Ein dritter Komplize stellt sich 1998 und muss sechs Jahre in Haft.

Im Prozess gegen seine Entführer tritt Reemtsma als Nebenkläger auf. Auch verarbeitet er seine Entführung, die Geiselhaft und die Befreiung 1998 in seinem Buch "Im Keller". Auf den letzten Seiten schreibt er: "Der Keller bleibt im Leben."

Johann Scheerer verarbeitet Entführung ebenfalls literarisch

Jan Philipp Reemtsma (l), seine Ehefrau Ann Kathrin Scheerer und ihr gemeinsamer Sohn Johann verlassen am 27. Januar 1997 nach ihrer Zeugenaussage im Entführungsfall den Verhandlungssaal des Hamburger Landgerichtes. © picture-alliance / dpa Foto: Kay Nietfeld
Johann Scheerer, hier mit seinen Eltern 1997 im Hamburger Landgericht, war 13 Jahre alt, als sein Vater entführt wurde.

Auch Reemtsmas Sohn Johann Scheerer, zum Zeitpunkt der Entführung 13 Jahre alt, arbeitet die Geiselnahme seines Vaters später literarisch auf: 2018 erscheint von dem Hamburger Musikproduzenten "Wir sind dann wohl die Angehörigen", ein eindringlicher Bericht von 33 Tagen in Angst und Ungewissheit. Die gleichnamige Verfilmung unter Regisseur Hans-Christian Schmid kommt am 3. November 2022 in die deutschen Kinos. 2021 knüpft Scheerer mit "Unheimlich nah" an sein Debüt an - ein Bildungsroman, der ebenfalls auf den Erlebnissen der Geiselnahme fußt.

Schwerpunkt Zivilisationstheorie und Gewaltforschung

Seine eigene Entführung hindert Jan Philipp Reemtsma nicht daran, seine Arbeit weiterhin unermüdlich fortzuführen. Zusätzlich zu einer Professur in Hamburg bekleidet er später auch Gastprofessuren in Duisburg, Jena und Mainz. Neben Themen aus Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie liegt sein Fokus vor allem auf politischen und sozialen Themen. Eine besondere Rolle kommt dabei dem sozialwissenschaftlichen Blick auf Gewalt zu, veröffentlicht etwa in seinen Reden und Büchern "Die Gewalt spricht nicht. Drei Reden" (2002), "Folter im Rechtsstaat?" (2005), "Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne" (2008), "Gewalt als Lebensform. Zwei Reden" (2016) und "Helden und andere Probleme" (2020).

Reemtsma überlässt sein Archiv dem Literaturarchiv Marbach

Von 2012 bis 2015 ist Reemtsma als Honorarkonsul der Republik Slowenien in Hamburg und Schleswig-Holstein tätig, von 2013 bis 2016 zudem Mitglied im Wissenschaftsrat der Bundesrepublik Deutschland. Mit zwei Ehrendoktorwürden und etlichen Auszeichnungen - vom Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg über den Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museums Berlin bis zum Weimar-Preis - wird Reemtsmas Schaffen vielfach geehrt. Das Bundesverdienstkreuz lehnt er - ganz Hanseat - hingegen ab.

2017 übergibt Reemtsa sein literarisches und wissenschaftliches Archiv dem Deutschen Literaturarchiv Marbach. Neben Vorarbeiten und Dokumenten zu etlichen Projekten gehören dazu auch umfangreiche Korrespondenzen etwa mit Klaus von Dohnanyi, Hans Magnus Enzensberger, Jürgen Habermas und Marcel Reich-Ranicki. Jan Philipp Reemtsma lebt und arbeitet nach wie vor hauptsächlich in Hamburg und ist mit der Psychoanalytikerin Ann Kathrin Scheerer verheiratet.

Weitere Informationen
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Dieses Thema im Programm:

Hamburg Journal | 21.03.2021 | 19:30 Uhr

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