Sendedatum: 10.11.2014 00:05 Uhr

Die Trabi-Invasion

von Thorsten Philipps, NDR 1 Welle Nord
Schlutup am 10. November 1989: Begrüßung der Trabifahrer aus dem Osten © NDR/Schwanke
Schlutup am 10. November 1989: Deutsch-deutsche Begrüßung am Grenzübergang Schlutup.

"Ich hörte ein seltsames Knattern, dann kam da plötzlich aus dem grellen Scheinwerferlicht heraus der erste Trabi", erinnert sich Horst Schwanke aus Schlutup an den Abend des 9. November 1989. In dem Moment kann er noch nicht wissen, dass er wohl einer der ersten Bundesdeutschen ist, der einen DDR-Bürger in Lübeck-Schlutup empfängt. "Der Mann in dem Trabi begrüßte mich mit einer Flasche Pils," erzählt der damals 48-jährige Bankangestellte.

Trabis bei der Überfahrt des kleinen Grenzverkehrs. © NDR/Schwanke
Unzählige Bürger fahren am 10. November 1989 mit ihren Trabis über den Grenzübergang in Schlutup.

Normalerweise wäre seine Frau Traute mit ihm zur Grenzübergangsstelle spazieren gegangen - wie fast jeden Abend - aber sie liegt mit Fieber krank zu Hause im Bett. "Wir fanden das immer so interessant und spannend, am Grenzverlauf im Wald und am Wasser entlang spazieren zu gehen und uns mit den westdeutschen Grenzern über dies und das zu unterhalten," erzählt Traute Schwanke, die heute wie ihr Mann 68 Jahre alt ist. "Wir hatten beide die Nachrichten an dem Abend nicht verfolgt und wussten nichts von der Pressekonferenz mit Günter Schabowski."

Von der Geschichte überrollt

Kein Wunder, dass ihr Mann von den Ereignissen buchstäblich überrollt wird: "Denn dann kam nach einiger Zeit wieder ein Trabi, dann wieder einer, und plötzlich waren es Hunderte - eine kilometerlange braun und blau gemischte Blechlawine ging auf einmal durch Schlutup. Immer wieder wurde ich gefragt, wo der Weg nach Lübeck ist," erinnert sich Horst Schwanke an den Abend.

Begrüßung der DDR-Bürger in Schlutup. © NDR/Schwanke
AUDIO: Jubel in Schlutup (1 Min)

Schon am nächsten Tag ist beiden klar, dass Schlutup "vom Dorf zum Nabel der Welt" wurde. Tausende von Lübeckern kommen in den Ortsteil, um die DDR-Bürger schon an der Grenze zu begrüßen - und der Trabi-Konvoi reißt nicht ab. "Es herrschte der Ausnahmezustand, mittlerweile stank es überall nach den Abgasen der Zweitaktmotoren, die Luft war blau und zum Schneiden, die Straßen waren fast rund um die Uhr verstopft." Nach ein paar Tagen beginnt die Stimmung bei den Grenzanwohnern zu kippen. Nach der anfänglichen Euphorie sind viele Schlutuper, wie die Schwankes, genervt von dem massenhaften Ansturm. "Einmal kam ich von meiner Arbeit in Scharbeutz an der Ostseeküste nicht mehr nach Hause wegen des Staus, da habe ich mein Auto einfach stehen lassen und bin in eisiger Kälte auf hochhackigen Schuhen vier Kilometer nach Hause gegangen, bis ich Blasen an den Füßen hatte," erzählt Traute Schwanke.

Blauer Dunst am Grenzübergang Lübeck-Schlutup

Lübecker begrüßen am 11. November 1989 Besucher aus der DDR in Lübeck-Schlutup © picture-alliance / dpa
Lübecker stehen am 11. November 1989 Spalier, um die Ostdeutschen zu begrüßen.

Auch Lieferanten kommen nicht mehr durch, langsam aber sicher werden die Lebensmittel in Schlutup knapp und das, was an Obst und Gemüse in den Auslagen vor den Läden liegt, hätten die Schwankes eh nicht angerührt: "Wir hatten Angst wegen der Schadstoffe!" erzählt Horst Schwanke mit einem Lächeln. Trotz aller Probleme damals denken die Schwankes mit Freude an diese spannende Zeit zurück: "Wir sind dankbar, dass wir das Unvorstellbare so hautnah miterleben durften."

Die Jahre davor waren nämlich nicht immer nur lustig gewesen: 1967 hätten Schwankes um Haaresbreite ihren Sohn Sören an der Grenze verloren. Der hatte sich im Alter von vier Jahren auf dem Eis aus dem Staub gemacht. Vater Horst passte einen Moment lang nicht auf. Kurz vor der Grenze konnte Horst Schwanke seinen Sohn gerade noch festhalten: "Wir wussten ja nicht, was die getan hätten - vielleicht hätten sie einen Meter weiter geschossen." Obwohl das Ehepaar direkt an der Grenze lebte, war sie nichts Alltägliches: Sie blieb unberechenbar. Besonders schlimm war für Traute Schwanke das ständige Gebell der Hunde. "Wir konnten sie immer hören und auch an ihrer Laufleine sehen. Die waren so abgemagert - die haben bestimmt vor Hunger gebellt," erzählt sie.

Horst Schwanke (re.) Ende der Fünfzigerjahre vor dem Schlutuper Grenzübergang. © NDR/Schwanke
Horst Schwanke (re.) Ende der Fünfzigerjahre vor dem Schlutuper Grenzübergang.

Kurz nach Kriegsende, erinnert sich Horst Schwanke, besaß sein Onkel noch ein Stück Gartenland im Osten: "Er ging in seinen Garten, als gäbe es keine Zonen. Dann allerdings, so ungefähr 1948, kam er eines Abends zurück und erzählte meinem Vater, dass die Russen ihn fortgejagt und seine goldene Uhr gestohlen hätten. Er solle bloß nicht wieder da auftauchen, hatten die ihm mit vorgehaltener Waffe zu verstehen gegeben."

Schatzsuche in der DDR

Aber irgendwie fühlten sich die Schwankes als Grenzbewohner immer zum Osten hingezogen. Beim kleinen Grenzverkehr war Familie Schwanke ganz groß dabei: Seit 1973 waren sie 30 mal in der DDR. So konnten sie Veränderungen gut miterleben - und sahen auch viele Ähnlichkeiten in West und Ost: "Wir bekamen mit, dass es Handtaschenraub auf offener Straße genauso wie bei uns im Westen gab. Und im Laufe der Zeit haben die Menschen immer mehr zur Alkoholflasche gegriffen - ich werde nie vergessen, wie ich vier oder fünf Menschen zur Mittagszeit angetrunken im Bus mit Bierflasche in der Hand rumsingend erlebt habe. Das hätte ich mir bis dahin gar nicht vorstellen können," wundert sich Horst Schwanke heute noch ein wenig.

An ihre erste Fahrt in die DDR 1973 erinnern sich beide noch ganz genau - sie waren mit ihrem roten VW-Golf nach Boltenhagen gefahren, und schon die Begegnung mit den DDR-Grenzern bleibt unvergessen: "Die waren wirklich unfreundlich bei der Kontrolle, wir mussten Kofferraum und Motorhaube aufmachen. Im Innenraum wurde alles abgesucht," erzählt Traute Schwanke. "Dann waren wir in Boltenhagen und haben unseren Wagen, den unser Sohn mit bestimmt 100 Stickern beklebt hatte, auf dem Marktplatz stehen lassen. Nach einem fünfstündigen Bummel durch das Städtchen kamen wir wieder zurück, und suchten nach dem mit Stickern übersäten Golf - nur fanden wir das Auto zuerst nicht. Dann sahen wir was passiert war: Unglaublich, alle Sticker unseres Sohnes waren abgekratzt - als er das sah hat der Zehnjährige ganz bitter geweint."

Auf der Suche nach Antiquitäten

Damals habe es auch noch keine Südfrüchte gegeben. "Ein paar Jahre später gab es dann Südfrüchte zu kaufen." Dennoch hatte sich im Laufe der Jahre die Stimmung in der Bevölkerung eher verschlechtert: "In den Achtzigerjahren schienen die Menschen immer gleichgültiger zu werden - niemand mochte mehr daran glauben, dass das geteilte Land mal wiedervereint werden würde," so Horst Schwanke. Dadurch erklärt sich vielleicht auch der zunehmende Alkoholkonsum, den die Schwankes in der Nähe von Schwerin beobachten konnten, als sie immer häufiger in den Achtzigerjahren die Cousine von Traute Schwanke besuchten.  

Traute Schwanke mit ihrem in den Achtzigern geschmuggelten Bügeleisen. © NDR/Schwanke
Traute Schwanke mit ihrem in den Achtzigern geschmuggelten Bügeleisen.

Für die leidenschaftliche Sammlerin von Stickereien und antiken Bügeleisen war die DDR ein Eldorado: "Ich schmuggelte häufiger was mit rüber und hatte jedes Mal eine Riesenangst, erwischt zu werden. Eine Stickerei aus dem 19. Jahrhundert hatte ich einmal in meiner Strumpfhose am Bauch - es ging alles gut." Auch ein anderes Mal, als sie ein Bügeleisen in einer als Abfalltüte getarnten Tasche schmuggelte, wurde sie nicht erwischt.

"Schon toll, wenn man bedenkt, dass wir heute einfach nach Schwerin fahren können, ohne Probleme und ohne den ganzen Stress," sagt Traute Schwanke und ihr Mann ergänzt: "Durch das Jubiläum sind all diese Erinnerungen erst wieder richtig  präsent geworden: Es war eine spannende Zeit, gerade die Wende, schön, dass wir das miterleben durften!"

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10.11.2014 | 00:05 Uhr

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