Undatierte Aufnahme des deutschen Außenministers Walther Rathenau, der am 24. Juni 1922 in Berlin einem Attentat zum Opfer fiel. © picture-alliance / dpa

Der Mord an Walther Rathenau - Ein Angriff auf die Demokratie

Stand: 24.06.2022 05:00 Uhr

Sie hassen die Weimarer Republik und morden auf offener Straße: Mitglieder der rechtsradikalen "Organisation Consul" töten am 24. Juni 1922 Walther Rathenau. Ein rechtsradikales Netzwerk in Mecklenburg spielt dabei eine wichtige Rolle.

von Heiko Kreft

Die noch junge Republik wird in ihren Anfangsjahren von einer politisch motivierten Attentatsserie erschüttert. Im August 1921 ermorden Rechtsradikale den Politiker Matthias Erzberger. Als Unterzeichner des Waffenstillstandsabkommen, das den Ersten Weltkrieg beendet und als Verhandler des Versailler Vertrag ist Erzberger für die Rechten eine Hassfigur. Das gilt auch für den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann. Nur drei Wochen vor dem Rathenau-Mord wird auf ihn ein Blausäure-Anschlag verübt. Scheidemanns "Verbrechen": Er hatte im November 1918 die Republik ausgerufen. Verantwortlich für die Attentate auf Erzberger, Scheidemann und Rathenau ist die "Organisation Consul".

20er-Jahre: Sehnsucht nach einem autoritären Staat

Der Geheimbund, angeführt vom ehemaligen Marineoffizier Hermann Ehrhardt, hat überall geheime Zellen aufgebaut. Erhardt kann auf Tausende Helfer zugreifen. Sie sind zu allem bereit. Ungeduldig warten sie auf den Tag X, an dem es zum Staatsstreich kommen soll. Es sind vor allem junge, vom Krieg entwurzelte Männer, die sich nach der Monarchie und einem autoritären Staat sehnen. Der liberale Spitzenpolitiker Walther Rathenau ist für sie "ein Mann, den wir bekämpfen und vernichten wollten. Weil er ein Repräsentant all dessen war, was wir hassten, was wir nicht wollten: Es war die Demokratie", erinnert sich 1962 Ernst von Salomon in einem Film des WDR. Salomon war an der Vorbereitung des Attentats auf Walther Rathenau beteiligt.

Rechte Fanatiker wollen Bürgerkrieg in der Republik auslösen

Der Historiker Martin Sabrow © NDR
Martin Sabrow ist emeritierter Professor der Humboldt-Universität zu Berlin und Autor eines neuen Buches zum Rathenau-Mord.

Die Ermordung des Außenministers ist für die "Organisation Consul" zugleich ein strategisches Mittel. "Sie wollten die Linke und die bürgerliche Republik zum Aufstand reizen. Sie in den Bürgerkrieg treiben", berichtet der Historiker Martin Sabrow. Chaos und Aufruhr provozieren, um dann als "Retter des Vaterlandes" zu erscheinen - das ist der perfide Plan. In seinem jetzt erschienenen Buch "Der Rathenau-Mord und die deutsche Gegenrevolution" schildert Sabrow auch die Verbindungen der Attentäter nach Mecklenburg. Es sind weitgehend unbekannte Details. Was kaum jemand weiß: Die Mordwaffe kam aus Schwerin.

Attentäter erhalten Waffe für Rathenau-Mord in Schwerin

Flugblatt mit der Schlagzeile "Der Jude Rathenau" © NDR
Der Schweriner Unterstützer der Rathenau-Mörder, Erich Bade, veröffentlichte ein hetzerisches Flugblatt gegen Rathenau.

Am Tag vor dem Anschlag fahren die späteren Attentäter Erwin Kern und Hermann Fischer in die mecklenburgische Landeshauptstadt. In einem Haus am Pfaffenteich operiert damals der "Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund". Dort bekommen Kern und Fischer die Maschinenpistole, mit der sie keine 24 Stunden später Rathenau ermorden. Der Schutz- und Trutzbund ist ein rechtsradikaler, antisemitischer Verein. Gauleiter für Mecklenburg ist Erich Bade. Er gehört auch dem Geheimbund "Organisation Consul" an. Bade ist in Schwerin für seine rechtsradikalen Aktionen bekannt. So hat er ein Flugblatt, in dem er gegen den "Juden Rathenau" und die Weimarer Republik hetzt, veröffentlicht und verteilt. Zudem organisiert er in einem Wald bei Schwerin regelmäßig Schießübungen. Die Schweriner Tageszeitung "Das Freie Wort" enthüllt Bades Aktivitäten drei Wochen vor dem Rathenau-Mord. Das SPD-Blatt warnt eindringlich vor Bade, nennt den Schutz- und Trutzbund eine "Lehranstalt für politische Meuchelmörder" und zitiert aus einem seiner Briefe: "Wir treffen keine halben Maßnahmen. Wir stehen vor dem Endkampf."

Landeskriminalamt ignoriert Hinweise auf ein Attentat

Trotz der Androhungen passiert nichts. Die Schweriner Polizei schaut gezielt weg. Das liegt an Karl Wiggers, dem Chef des Landeskriminalamtes. In zeitgenössischen Quellen wird er als Deutschnationaler beschrieben. Er ist mit Bade befreundet. Höchst wahrscheinlich sieht er sogar die Attentäter Kern und Fischer in Schwerin, denn Wiggers und Bade besprechen damals die Vorbereitungen für eine deutschvölkische Sonnenwendfeier. Aufgrund der Kumpanei zwischen dem Polizeibeamten und dem rechtsradikalen Aktivisten klappt die Waffenübergabe reibungslos. Unbehelligt fahren die Attentäter Kern und Fischer nach Berlin - im gleichen Auto, von dem aus sie Rathenau wenig später erschießen.

Millionen demonstrieren in Berlin für die Weimarer Republik

Der Mord am demokratischen Spitzenpolitiker treibt in ganz Deutschland Anfang der 20er-Jahre Millionen Menschen auf die Straße. Sie demonstrieren für die Weimarer Republik, für die Demokratie. Hunderttausende stehen Spalier als Rathenau in Berlin zu Grabe getragen wird. Kern und Fischer sind da noch in der Stadt. Sie hoffen auf Randale am Rande des Trauerzuges. "Man glaubte, dass das der Funke sei, der das Pulverfass Weimarer Republik zur Explosion bringen würde", sagt Sabrow. Doch das passiert nicht. Es kommt zu keiner Krisensituation, in der sich die "Organisation Consul" als Held aufspielen könnte. Der geplante Staatsstreich fällt aus. Kern und Fischer verlassen Berlin.

Fluchtplan für Rathenau-Mörder wird ausgeheckt

Erwin Kern und Herrmann Fischer, die Mörder Walther Rathenaus © NDR
Erwin Kern und Herrmann Fischer ermorden am 24. Juni 1922 Außeminister Walther Rathenau in Berlin.

Mutmaßlich fahren Kern und Fischer zunächst noch einmal nach Schwerin. Im Büro des "Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes" haben sie einen Fluchtkoffer deponiert. Dann nehmen sie den Zug nach Rostock. Erwin Kern war schon oft dort. Er hat Freunde an der Universität zum Beispiel Kurt Blome. Auch er gehört dem rechten Geheimbund an. In der "Schröderhalle", einer bekannten rechtsradikalen Kneipe treffen sich die Rostocker "Organisaton Cosul"-Leute mit den Rathenau-Mördern. Ein Fluchtplan wird ausgeheckt. Kern und Fischer sollen nach Skandinavien geschleust werden. Für eine Nacht kommen sie in der Wohnung eines Rostocker Studenten unter. Dort wird zumindest Kern am nächsten Morgen von einem Unbeteiligten zufällig gesehen. Der Student Hans Langenscheidt schöpft Verdacht, geht zur Polizei und erstattet Anzeige. "Der macht sehr klare Aussagen - wird aber nicht ernst genommen", weiß Historiker Sabrow aus den Ermittlungsakten.

LKA-Mann deckt erneut Geheimbund "Organisation Consul"

Verantwortlich für die Missachtung der Anzeige: LKA-Chef Karl Wiggers. Wieder deckt der Beamte den Geheimbund. Zufall? Der Rostocker "Organisation Consul"-Mann Blome und auch Bade behaupten später, sie hätten Wiggers wegen dessen Homosexualität erpresst. Politische Freundschaft oder niederträchtige Erpressung. Was der Grund für Wiggers seltsames Verhalten war, ist heute nicht mehr genau zu sagen. Für Sabrow steht jedoch fest: "Wiggers führte die Vernehmungen durch. Hätte er sie schärfer durchgeführt, präziser durchgeführt, hätte er vor allem auf den Zeugen Hans Langenscheidt geachtet, hätte man die Rathenau-Mörder vermutlich noch am 29. Juni in Rostock gefasst."

Flucht über die Ostsee von Kern und Fischer scheitert

Fahnungsplakat nach den Mördern von Walther Rathenau © NDR
Nach dem Bekanntwerden ihrer Identität wollen die Attentäter Kern und Fischer nach Dänemark fliehen.

Weil das nicht passiert, fahren Kern und Fischer unbehelligt nach Warnemünde. Ein Geheimbund-Mann soll sie mit einem kleinen Segelboot nach Dänemark bringen. Doch das Wetter ist zu schlecht - die Flucht ins Ausland unmöglich. Nun kommen die Attentäter erstmals in Bedrängnis. Fünf Tage nach ihrer Bluttat kennt die Berliner Polizei mittlerweile ihre Identität. Der Fahrer des Autos, mit dem sie die Waffe in Schwerin abgeholt und den Anschlag in Berlin-Grunewald verübt haben, ist geschnappt und verrät ihre Namen. Fahndungsplakate mit Fotos von Kern und Fischer erscheinen. Zeitungen drucken Personenbeschreibungen. Die Rostocker Geheimbündler bringen die Mörder in einen Wald bei Kühlungsborn. Zwei Tage harren Kern und Fischer aus. Dann verlieren sie die Geduld.

Attentäter entkommen auf der Flucht knapp ihren Verfolgern

Auf eigene Faust gehen sie zu Fuß nach Wismar. Sie hoffen auf den dortigen "Organisation Consul"-Mann Rudolf Otto. Auch er besitzt ein Segelboot. Weil eine Überfahrt nach Dänemark wegen anhaltend schlechtem Wetter immer noch nicht möglich ist, schickt Otto die beiden zu Karl Baur in Neukloster: Er studiert am dortigen Lehrerseminar und hilft den Rathenau-Mörder bereitwillig weiter. Baur besorgt Fahrräder und schleust Kern und Fischer sicher aus Neukloster hinaus. Abseits großer Straßen radeln sie nach Neu-Kaliß. Im Dorf bei Dömitz suchen sie einen weiteren Geheimbündler auf. Der rät zur Weiterfahrt ins nahe gelegene preußische Lenzen. Dort werden beide erkannt. Im Eiltempo rasen sie zur Elbfähre. Es kommt zu einer dramatischen Szene, weiß Sabrow: "Die Fähre hatte gerade abgelegt. Kern zieht die Pistole und schreit den Fährmann an: 'Wenn Sie nicht sofort umdrehen, schieß' sich Sie über den Haufen!' Der Fährmann dreht um. Als gerade ihre Verfolger auf Motorrädern hinterher kommen, springen die beiden Mörder auf die Fähre und verschwinden über die Elbe."

Buch-Tipp zum Thema "Rathenaus Mörder in Mecklenburg"

Martin Sabrow
"Der Rathenau-Mord und die deutsche Gegenrevolution"
Geheimbundes?
334 Seiten
Erschienen: April 2022
Wallstein-Verlag

Gewaltsamer Tod der Rathenau-Mörder auf Burg Saaleck

Acht weitere Tage dauert die Flucht von Kern und Fischer noch. Am Ende verschanzen sie sich auf Burg Saaleck bei Naumburg. Der Besitzer ist ebenfalls Teil des Geheimbundes "Organisation Consul". Er lässt die Attentäter hinein und verreist. Doch Kern und Fischer sind unvorsichtig. Sie lassen nachts Licht brennen. Das finden Anwohner merkwürdig und alarmieren die Polizei. Die umstellt am nächsten Morgen die Burg. Bei einem Feuergefecht wird Kern getötet. Fischer erschießt sich selbst.

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Dieses Thema im Programm:

Nordmagazin | 19.06.2022 | 19:30 Uhr

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