SA-Männer kleben ein Plakat mit der Aufschrift 'Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden' an die Schaufensterscheibe eines jüdischen Geschäfts. © picture-alliance / akg-images

Judenboykott 1933: Hass und Hetze auf Befehl

Stand: 01.04.2023 05:00 Uhr

Ganz offiziell beginnt am 1. April 1933 in Deutschland der organisierte Terror gegen die jüdische Bevölkerung. Um 10 Uhr morgens marschieren in zahlreichen Städten auch in Norddeutschland Kolonnen von SA und SS auf. Die Parole: "Kauft nicht bei Juden!"

von Dirk Hempel

Die Uniformierten postieren sich vor Geschäften, Arztpraxen, Kanzleien, Agenturen, Cafés und Gaststätten. In Schleswig-Holstein etwa in Altona, Flensburg, Kappeln und Elmshorn. Sie tragen Schilder mit Parolen wie "Deutsche! Wehrt Euch!" und "Deutsche kaufen keinen jüdischen Ramsch!". Die "Braunhemden" verteilen Handzettel, bekleben die Schaufenster mit Plakaten - und versuchen, Kunden und Klienten unter Drohungen und Handgreiflichkeiten am Betreten der Geschäfte zu hindern.

Die Judenverfolgung beginnt mit dem Boykott

Seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 hat es an vielen Orten bereits "wilde" Boykott-Aktionen von NSDAP-Anhängern gegen jüdische Geschäfte gegeben, etwa in Hamburg und Kiel. Aber dieser Aufmarsch nun ist erstmals von Hitler selbst befohlen, von der NS-Regierung gebilligt und von der Partei zentral organisiert worden.  

Die Presse bereitet die Aktion vor

Aufruf zum Boykott jüdischer Einrichtungen von 1933, gezeichnet durch Julius Streicher. Plakat (Druck: Max Schmidt & Söhne, München), aus: Anschläge, München 1933. © picture alliance / akg-images
Offensiv rufen NSDAP-Funktionäre wie der Gründer des antisemitischen Hetzblattes "Der Stürmer", Julius Streicher, zum Boykott jüdischer Einrichtungen auf.

Propagandaminister Josef Goebbels hat Ende März einen Aufruf formuliert, der in Zeitungen und auf Plakaten veröffentlicht worden ist. In Hamburg hat NSDAP-Gauleiter Karl Kaufmann "die" Juden im Rundfunk als Vaterlandverräter bezeichnet und ihnen die Schuld für die wirtschaftlichen Probleme des Landes gegeben.

Auch die Zeitungen hetzen gegen die jüdische Bevölkerung und unterstützen den Boykott. Die "Altonaer Nachrichten" etwa drucken die Polizeiverordnung, nach der Geschäfte, Cafés und Restaurants jüdischer Betreiber ein gelbes Plakat mit der Aufschrift "Jüdisches Unternehmen" im Schaufenster anzubringen haben. Die "Flensburger Nachrichten" veröffentlichen eine Liste der Unternehmen, die boykottiert werden sollen, darunter das Kaufhaus Woolworth, das Schuhhaus Bata und die Firma "Nord-Radio", außerdem Versicherungsagenturen wie Allianz, Gerling und Germania.  

Boykott auch in den kleinen Städten

Am 1. April kommt es etwa in Schleswig-Holstein auch in kleineren Städten zu Boykott-Aktionen, wie Lokalhistoriker, Journalisten und Museen erforscht haben. So versperren SA-Männer in Itzehoe das Kaufhaus "Union" der Familie Abraham, in Ahrensburg die Adler-Apotheke von Siegfried Riess und einen Speicher der Getreidehändler Hirsch und Ludwig Lehmann. In Kappeln postieren sich SA-Männer mit ihren Propaganda-Schildern vor dem Tabakgeschäft von Richard Eichwald, in Elmshorn blockieren sie das Kaufhaus EPA und das Bürobedarfsgeschäft Max Meyer, in Rendsburg die Kurzwarenhandlung von Else Blumann, in Bad Segeberg das Schuh- und Bekleidungsgeschäft des frommen Juden Moritz Steinhof.  

Waffen und Gewalt: "Jetzt ist es endgültig aus mit den Juden"

Antijüdische Propaganda auf einem Schaufenster (unbekannter Ort) im April 1933: "Nur schade das Du nicht koscher bist!" © picture alliance / akg-images
Beschmierte Schaufenster jüdischer Geschäfte gehören ab April 1933 noch zu den "milden" Ausprägungen der Verfolgung.

In Altona, damals das kulturelle Zentrum der jüdischen Bevölkerung in Schleswig-Holstein, beobachtet Miriam Carlebach, die elfjährige Tochter des Oberrabbiners Joseph Carlebach, eingeschlagene Schaufensterscheiben. In ihren Lebenserinnerungen berichtet sie von bewaffneten und "uniformierten Männern in langen, braunen Mänteln" und einem Laden, auf dessen Scheibe "mit dicker Ölfarbe das Wort Jude gemalt" war. "Die Farbe kleckerte in langen schmierigen Streifen herunter", schreibt die Soziologin später in "Jedes Kind ist mein Einziges".

In Lübeck, so erinnert sich Josef Katz in "Erinnerungen eines Überlebenden" von 1988, wird sein Bruder, ein Lederhändler, angegriffen: "Ein SA-Mann schlägt meinen Bruder, als er in seinen Laden hineingehen will, mit der Faust ins Gesicht. Er kommt sehr deprimiert nach Hause und sagt zu meiner Mutter: 'Jetzt ist es endgültig aus mit den Juden.'"  

In Kiel hindern bewaffnete SS-Männer den Rechtsanwalt Dr. Friedrich Schumm daran, das Möbelgeschäft seiner Eltern zu betreten. Im Handgemenge löst sich ein Pistolenschuss und verletzt einen der SS-Männer. Daraufhin verwüsten Parteimitglieder das Möbelgeschäft, dringen wenig später in das Polizeigefängnis ein, in dem Friedrich Schumm inhaftiert ist, und ermorden ihn in seiner Zelle, ohne dass die Polizei einschreitet.

Wenige Protest-Käufer sind solidarisch

Drei deutsche Frauen lesen im April 1933 ein Plakat am Schaufenster eines Geschäfts, das zum Boykott von jüdischen Geschäften aufruft: "Deutsche, verteidigt Euch gegen die jüdische Greuelpropaganda, kauft nur bei Deutschen!". © picture-alliance / dpa | UPI
Die große Masse folgt dem Boykott-Aufruf der Nazis, doch einige wenige zeigen sich solidarisch mit ihren jüdischen Mitbürgern.

Es sind nicht viele, aber Teile der nichtjüdischen Bevölkerung reagieren ablehnend auf den Boykott und zeigen Solidarität mit den Ausgegrenzten. Die NSDAP ist erst zwei Monate an der Regierung und hat ihre Macht anscheinend noch nicht ausreichend stabilisiert. So kaufen einige Menschen an diesem Tag demonstrativ in Geschäften jüdischer Besitzer ein - auch wenn sie wie in Itzehoe beim Betreten des Kaufhauses von der SA fotografiert werden.

Die Wandsbeker Ärztin Henriette Necheles-Magnus berichtet später: "Die Patienten kamen und kamen mit Blumen, mit kleinen Gaben: 'Wir wollen Ihnen zeigen, was wir von dieser Politik halten'", zitiert der Historiker Frank Bajohr sie 1997 in "'Arisierung' in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933 - 1945". In Altona geben Kunden eines Schuhgeschäftes, die die SA abgewiesen hat, ihre Bestellungen telefonisch auf.

Der Boykott verändert das Leben der jüdischen Bevölkerung

Für die ausgegrenzten Kaufleute, Ärzte, Rechtsanwälte und ihre Familien sind die Erlebnisse des 1. April 1933 jedoch schockierend. Erstmals sind sie überall im Land öffentlich von der nichtjüdischen Bevölkerung abgesondert worden. Viele verlassen das Land, wie etwa Moritz Steinhof aus Bad Segeberg. Er verkauft seine Waren unter Wert und kehrt über Wien in sein Geburtsland Ungarn zurück.  

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Doch die meisten bleiben, bemühen sich, nicht aufzufallen, auch wenn ihre Geschäfte nach dem Boykott immer schlechter gehen wie der Kurzwarenladen von Else Blumann in Rendsburg. Sie hoffen auf eine Beruhigung der Lage. Schon bald aber treten weitere Gesetze und Verordnungen in Kraft, die das Leben der deutschen Juden beschneiden, insgesamt mehr als 2.000. Mit den Nürnberger Gesetzen verlieren sie 1935 ihre staatsbürgerlichen Rechte. Und im Pogrom vom 9. November 1938 ermorden SA-Männer Hunderte, verschleppen mindestens 30.000 Menschen in Konzentrationslager, zerstören mehr als 1.400 Synagogen und rund 7.000 Geschäfte.

Angesichts des entfesselten Terrors bleiben solidarische Reaktionen der nichtjüdischen Bevölkerung längst aus.

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Nach dem Pogrom nimmt die Auswanderung noch einmal zu. Familie Abraham aus Itzehoe zum Beispiel flieht jetzt nach Shanghai, gründet dort ein Geschäft für Kinderbekleidung, bevor sie 1949 in die USA weiterzieht. Die meisten Deutschen jüdischer Herkunft aber werden ab 1941 in die Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager des Ostens deportiert und dort ermordet. Insgesamt löschen die Nationalsozialisten und ihre Helfer unter dem NS-Regime das Leben von mehr als sechs Millionen Juden aus.

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Unter ihnen sind auch der Schuhhändler Moritz Steinhof aus Bad Segeberg, seine Frau und zwei seiner Töchter, der Kappelner Zigarrenhändler Richard Eichwald mit seinen Eltern und seiner Frau sowie die Rendsburger Kurzwarenhändlerin Else Blumann.

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NDR Info | 01.04.2023 | 05:55 Uhr

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