Stand: 16.03.2020 09:35 Uhr

"Harburger Blutmontag": Massaker an der Mittelschule

von Britta Probol
Wolfgang Kapp (M.), der Gründer der rechtsradikalen Deutschen Vaterlands-Partei (1917) und Initiator des Kapp-Putsches, nach dem Putschversuch auf der Flucht in einem Flugzeug. © dpa-Bildarchiv Foto: Ullstein
Nachdem der Putsch-Versuch unter Wolfgang Kapp, dem Gründer der rechtsradikalen Deutschen Vaterlands-Partei, scheitert, setzt dieser sich am 17. März 1920 nach Schweden ab.

Die Ereignisse vom 15. März 1920 sind als "Harburger Blutmontag" in die Geschichte eingegangen: Als nationalkonservative Kräfte in Berlin unter dem ostpreußischen Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp versuchen, die Regierung zu stürzen, stellt sich eine Hamburger Einwohnerwehr Anhängern der Putschisten in Harburg entgegen. Während der Umsturzversuch andernorts abgewehrt wird, endet der politische Kampf im Umfeld der Heimfelder Mittelschule mit 25 Toten und rund 50 Verletzen.

"Das Gebäude der Heimfelder Mittelschule sieht innen und außen wüst aus. Von den Fenstern ist kaum eins auch nur einigermaßen heil geblieben. Die Mauern und Türen weisen starke Spuren der Schießerei auf. [...] Die letzten Leichen sind heute Morgen aus der Schule herausgeschafft worden." "Harburger Anzeigen und Nachrichten", 16. März 1920

Tote und Verwundete habe es gegeben, berichten auch die "Hamburger Nachrichten" in ihrer Morgenausgabe, "darunter auch einige Frauen und Kinder". Die zerschundene Leiche von Hauptmann Rudolf Berthold, einem bewunderten Flieger-Ass aus dem Ersten Weltkrieg, liegt wenige Hundert Meter weiter in einer Gastwirtschaft. Was für ein Massaker hatte dort stattgefunden?

Putsch-Nachrichten aus Berlin - Aufruf zum Generalstreik

Die Schule in der Woellmerstraße, Hamburg Heimfeld - ehemals Mittelschule, während der NS-Zeit "Bertholdschule" genannt.  Foto: Britta Probol
In Hamburg entlädt sich der Konflikt um den Putsch-Versuch 1920 im Umfeld der ehemalige Mittelschule an der Woellmerstraße. Es kommt zu blutigen Gefechten.

Es ist der zweite Frühling nach dem Ersten Weltkrieg. Die junge deutsche Republik steht noch wackelig auf den Beinen: Versorgungsschwierigkeiten und Teuerung schaffen Unmut in der Bevölkerung, die immensen Reparationspflichten an die Siegermächte bedrücken die Wirtschaft. Räubereien und Diebstähle nehmen zu. Und nach der gescheiterten Novemberrevolution beharken sich in den Straßen immer wieder die Parteisoldaten von Links und Rechts. In nationalkonservativen Kreisen wächst der Wunsch nach einem starken Mann, der mal "richtig durchgreift".

In die Situation hinein platzt am Sonnabend, 13. März, die Nachricht aus Berlin: "Sturz der Regierung!" Bald spricht sich herum: Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp und Walther Freiherr von Lüttwitz, beurlaubter Führer des Reichswehr-Truppenkommandos, haben die Mitte-Links-Regierung entmachtet. Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) ist nach Dresden geflohen und ruft zusammen mit den Gewerkschaften zum Generalstreik gegen die rechten Putschisten auf.

Rathaus-Besetzung in Hamburg - Ruhe vor dem Sturm in Harburg

Während in Hamburg abends Reichswehrtruppen unter dem Kommando Oberst von Wangenheims das Rathaus besetzen, bleibt im benachbarten Harburg zunächst alles ruhig. Verhandlungen zwischen Arbeitgeberverband und Gewerkschaften ergeben am Sonntag früh, dass nicht gestreikt werden soll, wenn sich das in Harburg stationierte Reichswehr-Pionier-Bataillon Nr. 9  neutral zeigt. Arbeiter nehmen den Chef des Bataillons, Major Hueg, vorsichtshalber in Haft, denn er scheint geneigt, etwaige Anweisungen von General Lüttwitz auszuführen. Die Umsturzgefahr scheint damit gebannt.

Hauptmann Rudolf Berthold, Jagdflieger im Ersten Weltkrieg, Träger des Ordens "Pour le Mérite" und Führer der "Eisernen Schar". © picture alliance / akg Foto: akg-images
Hauptmann Rudolf Berthold, hier auf einer Aufnahme um 1916, macht mit seinen Truppen auf dem Weg nach Berlin in Harburg Station.

Doch die Ruhe täuscht: Aus dem Kehdinger Land bei Stade hat sich Fliegerhauptmann Rudolf Berthold mit seinem Freikorps, der "Eisernen Schar", auf den Weg gemacht. Der 28-Jährige, dessen rechter Arm seit einem Absturz verkrüppelt ist, trägt den Militärorden "Pour le Mérite" - die höchste offizielle Ehre, die einem Offizier für seine Tapferkeit zuteil werden konnte. Im Ersten Weltkrieg hatte er 44 Feind-Flugzeuge abgeschossen. Nach Kriegsende kämpfte er mit anderen Freiwilligen im Baltikum weiter gegen sowjetrussische Truppen. Seit diese Mission beendet ist, fehlt der "Eisernen Schar" eine rechte Aufgabe - und sie sucht sich nun offenbar eine neue und macht sich über Hamburg auf den Weg nach Berlin.

Einwohnerwehr und Arbeiter bewaffnen sich

Unterdessen heulen in Harburg die Sirenen: Da das Gerücht geht, dass die Baltikumtruppen unter Berthold von Stade aus in einem gekaperten Zug anrücken, wird die Einwohnerwehr zusammengerufen und bewaffnet - auch einige Aktivisten aus der Arbeiterschaft bekommen ein Gewehr in die Hand. Die Pioniere bewachen ihre Kaserne.

Spätabends entlädt das rund 700 Mann starke Freikorps am Unterelbe-Bahnhof in Bostelbek und schwärmt in Heimfeld aus. Hauptmann Berthold stellt seine Forderungen: Er verlangt vom Reichswehr-Pionier-Bataillon entweder Anerkennung der neuen Regierung und Übergang zu den Truppen - oder Kapitulation. Die Verhandlungen verlaufen ergebnislos.

Das Freikorps verschanzt sich in der Schule

In der Schule an der Woellmerstraße schlagen die "Baltikumer" ihr Nachtlager auf. Bewaffnete Arbeiter und einige Pioniere umstellen das Gebäude, Gewerkschafter nageln überall Plakate an: "Massenstreik!"

AUDIO: Ein Freikorps-Angehöriger erzählt (33 Min)

Am 15. März steht das öffentliche Leben in Harburg still. Freikorps-Soldaten mit Maschinengewehren postieren sich an allen wichtigen Kreuzungen und riegeln den Verkehr rund um die Schule ab. Dort gehen um halb neun Uhr morgens die Verhandlungen weiter, diesmal unter Beteiligung von Oberbürgermeister Heinrich Denicke, Gewerkschaftsführern und anderen einflussreichen Harburgern. Hauptmann Berthold macht deutlich, dass er sich mit der Einwohnerwehr nicht anlegen will. Doch lässt er sich auch nicht dazu bewegen, unverrichteter Dinge nach Berlin weiterzufahren.

Die Gewalt eskaliert

Auf einmal fallen Schüsse. Wer zuerst gefeuert hat, ist bis heute ungeklärt - doch ist mit diesem Signal der Kampf entfesselt. Reichswehr und Einwohnerwehr umzingeln die Schule, MG- und Gewehrfeuer werden immer heftiger. Die Sanitätskolonne hat "viel zu tun, um die immer größer werdende Zahl von Verwundeten und Toten fortzuschaffen", berichtet später das "Harburger Lokalblatt".

In Hamburg scheitert der Putsch-Versuch

Im Laufe des Nachmittags versuchen die Baltikumtruppen, erneut Verhandlungen aufzunehmen, hängen eine Tafel mit entsprechender Aufschrift und letztlich ein weißes Tuch heraus. Schließlich gehen Parlamentäre der Einwohnerwehr mit weißer Flagge ins Schulgebäude. Unterdessen kommt ein Flugzeug aus Richtung Hamburg. Es kreuzt mehrmals über der Schule und wirft eine Meldung herab: Oberst von Wangenheim hat in Hamburg das Kommando niedergelegt - der Putsch ist dort gescheitert.

Schüsse fallen - trotz Kapitulation im Harburger Schulgebäude

Zeitungsseite des "Volksblatts" vom 16. März 1920 über den Blutmontag in Harburg tags zuvor. © Staatsarchiv Hamburg
Das "Volksblatt" berichtet am folgenden 16. März 1920 ausführlich über das Blutbad.

Gegen 18 Uhr schweigen die Waffen, Hauptmann Berthold und seine Truppe kapitulieren. Die Einigung lautet: freier Abzug für die "Baltikumer", wenn sie ihr Kriegsgerät zurücklassen. Die Freikorps-Soldaten treten in Zweierreihen vor die Tür, entwaffnet und ohne Koppel, an der Spitze die Offiziere. Doch sie haben nicht mit der Wut der Menge gerechnet: "Nieder mit den Hunden!", schallt es. Die Stimmung vor der Schule ist aufs Äußerste gereizt - nicht zuletzt weil das Gerücht umgeht, die Baltikumtruppen hätten ganz Heimfeld geplündert. Mit Hohn und Unflätigkeiten stürzen sich die Belagerer auf die Offiziere, schlagen vier von ihnen mit Gewehrkolben zu Boden.

Plötzlich ist wieder Maschinengewehrfeuer zu hören. Hat die Einwohnerwehr auf die Entwaffneten geschossen? Oder kommen die Schüsse von Mitgliedern des Freikorps, die noch in der Schule verschanzt sind? Auch das bleibt unklar. Fluchtartig stiebt die Menschenmenge auseinander, auch einige Freikorps-Soldaten versuchen zu entkommen. Doch Reichswehr und Einwohnerwehr gelingt es trotz des Aufruhrs, die Freikorps-Truppen abzuführen - begleitet von der schimpfenden Menge. Sie setzen die Truppen in den Gastwirtschaften "Sanssouci" und "Gambrinus" fest.

Hauptmann Rudolf Berthold wird gelyncht

Hauptmann Berthold aber kann sich aus den Händen der erbosten Heimfelder nicht mehr befreien. Sie schleppen ihn einige Hundert Meter weiter in die Gaststätte "Zur Rennbahn" und beginnen im Klubzimmer ein Verhör. Draußen sammeln sich immer mehr Menschen, die schließlich das Zimmer stürmen und den Kriegshelden auf die Straße zerren. Mit einem Gewehrkolbenschlag wird der hoch dekorierte Jagdflieger zu Boden gebracht und weiter misshandelt. Eine kleinkalibrige Pistole, die man ihm bei der Entwaffnung belassen hat, nützt ihm nichts mehr: Die Aufgebrachten nehmen sie ihm ab und richten sie gegen den Hauptmann. Mitglieder der Einwohnerwehr bringen seine Leiche zurück in die Wirtschaft, da die zornige Menge sie sonst zerfleischt hätte.

Der Obduktionsbericht der Staatsanwaltschaft zählt später zwei Kopf- und vier Brustschüsse. Der oder die Mörder Bertholds werden nie gefasst. Sein Grab befindet sich heute auf dem Invalidenfriedhof in Berlin. Neben dem Hauptmann sterben bei den Gefechten mindestens 24 weitere Personen, etwa 50 werden zum Teil schwer verletzt.

"Harburger Blutmontag": Stoff für Legenden und Propaganda

Gedenktafel vor der Schule Woellmerstraße in Hamburg-Heimfeld, wo 1920 der sogenannte Harburger Blutsonntag stattfand.  Foto: B. Probol
Seit 2007 weist eine Gedenktafel vor dem Schulgebäude - heute Michael Schule Harburg - auf die Opfer der Auseinandersetzungen hin.

Um das Geschehen an diesem 15. März 1920 ranken sich etliche Halbwahrheiten und Legenden, die das Geschehen zuhauf umranken. Schon zur Zeit der Weimarer Republik und noch viel mehr im Dritten Reich instrumentalisieren rechte Kräfte die "Lynchjustiz an Hauptmann Berthold", der "mit seinem 'Pour le Mérite'" erdrosselt worden sei, für propagandistische Zwecke. Die Nazis benennen 1933 die Mittelschule ihrem Heroen zu Ehren in "Bertholdschule" um und stellen ein Denkmal auf, welches seit dem Zweiten Weltkrieg verschollen ist.

Heute erinnert eine Gedenktafel vor dem Schulgebäude an die Menschen, die sich in Harburg dem ersten Umsturzversuch gegen die junge Demokratie entgegenstellten. Der Kapp-Putsch endete am 17. März 1920 mit der Flucht Kapps nach Schweden.

Wolfgang Kapp © dpa Bildarchiv Foto: dpa Bildarchiv
AUDIO: Der Kapp-Putsch 1920 (9 Min)
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Dieses Thema im Programm:

Hamburg Journal | 15.03.2020 | 19:30 Uhr

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